The Project Gutenberg eBook of Tirol, by Max Haushofer
Title: Tirol
Author: Max Haushofer
Release Date: April 30, 2023 [eBook #70680]
Language: German
Produced by: Peter Becker, Marc-André Seekamp and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Land und Leute
Monographien zur Erdkunde
Land und Leute
Monographien zur Erdkunde
In Verbindung mit hervorragenden Fachgelehrten
herausgegeben von
A. Scobel
IV.
Tirol
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1899
Von
Prof. Dr. Max Haushofer
Mit 200 Abbildungen nach photographischen Aufnahmen
und einer farbigen Karte.
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1899
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von Fischer & Wittig in Leipzig.
[S. 1]
Seite | ||
I. | Einleitung | 3 |
II. | Geographische Übersicht | 8 |
III. | Klima, Pflanzen- und Tierwelt | 26 |
IV. | Geschichtliche Übersicht | 38 |
V. | Bevölkerung | 51 |
VI. | Das Unterinnthal und seine Nachbarschaft | 76 |
VII. | Nordwesttirol | 94 |
VIII. | Vorarlberg | 115 |
IX. | Vintschgau | 122 |
X. | Sillthal, Brenner und Bozen | 140 |
XI. | Pusterthal und Tauern | 153 |
XII. | Etschthal von Bozen bis Verona | 170 |
XIII. | Die südlichen Thäler der Dolomitalpen | 178 |
XIV. | Nonsberg und Judicarien | 188 |
Litteratur | 192 | |
Register | 193 | |
Karte von Tirol. |
[S. 2]
[S. 3]
Das Land Tirol!
Wer den Namen hört und die Augen schließt, dem ersteht vor dem inneren Blick ein großartiges Bild irdischer Meisterschönheit: grüne, von mächtigen, wilden Bergströmen durchrauschte Thäler mit alten Städtchen und mit friedsamen Dörfern, die sich an die Wiesenhänge lehnen; und über den Dörfern dunkele Waldung, aus deren schattigem Kranz weiße, graue und rote Felsmauern ragen; über diesen Felszinnen aber ein flimmerndes, funkelndes Dach von Eis und ewigem Schnee; ein Dach, über dessen schwindlig steile Schneiden und Hörner jahrhundertelang nur die Geister der Sage mit Elfenfüßen schritten, bis es seine Geheimnisse den kühnen Pfadfindern des XIX. Jahrhunderts erschloß.
Und in den Thälern ein Volk, schlicht und treu und heldenkühn; ein Volk, dessen Geschichte zurückreicht in die Zeit des gewaltigen römischen Kaiserreichs. Ein Volk, das in der Einsamkeit seiner Thäler lebt und stirbt, das fromm wie Kinder in seinen Dorfkirchen kniet, aber in Zeiten der Gefahr nicht bloß seine Männer, sondern auch seine Weiber und Knaben zum todbringenden Schießzeug greifen läßt für den Kampf um Heimat und Vaterland!
Ströme von Steintrümmern, Ströme von Wässern, Ströme von Eis und Ströme von Völkerschaften haben sich durch das Land ergossen, bis es zum Land Tirol von heute ward. Doch was diese Ströme auch mit sich rissen: seine große plastische Schönheit konnten sie dem Lande nicht entführen; auch nicht jene Tausende von heimlichen Winkeln und Ecken, in denen menschliches Leben und Geschichte sich eingeschmiegt haben mit ihren Häusern und Kirchen, Städtchen und Burgen.
Wir sehen das Land schon lange, ehe wir es betreten; wir sehen seine weißgrauen Felszinnen über die Voralpen emporschauen, wenn wir uns von Norden her nähern; und kommen wir von Süden, so grüßen uns auch nackte Bergmauern schon lange, während wir noch aus der lombardischen Ebene dahinrollen. Felsenthore nehmen uns auf, aus denen uns eiskalte, helle Ströme zwischen weißen Kiessäumen bergfrisch entgegenrauschen. Ein breites Thal liegt vor uns; an der Nordseite von kahlem, grauem Geschröffe vermauert, während an der Südseite grüne, bewaldete und bemattete Hänge sanfter hinansteigen. An Dörfern und Städten trägt uns das Rad auf der dröhnenden Schiene vorüber, auf Brücken den Strom übersetzend. Und bald erschließt sich in der südlichen, bald in der nördlichen Thalumwallung ein Spalt, der uns einen Einblick in irgend eine stille verträumte Nische dieser Bergwelt gestattet, wo abseits vom Lärm der großen Welt ein Häufchen Menschen lebt, das nichts kennt, als seine paar Häuser, seine weiße Kirche und die himmelhohen Berge, die seine Heimat umschließen.
Wir verlassen die Schienenstraße und wandern mittagwärts in eines jener Thäler[S. 4] hinein. Tiefe Einsamkeit umgibt uns bald; durch einen Erlenwald hören wir, manchmal näher, manchmal ferner, einen Bergstrom rauschen. Das erste Dorf, das in einer Thalweitung sich zeigt, ist groß und wohlhabend, von Obstgärten und Getreidefeldern umgeben. Dann verengert sich das Thal wieder; durch eine Wildnis von grauen und braunen Trümmerblöcken, die von den hohen, düster über uns starrenden Thalwänden niedergestürzt sind, windet sich ein schlechtes Sträßchen hinan, neben dem in grandioser Wildheit uns entgegenschäumenden Gletscherbach. Eine höhere Thalstufe wird erreicht; wieder breiten sich grüne Matten um uns aus, von riesenhaften Bergen überragt, über deren braune Wände Wasserfälle niederstäuben, die aus Schnee- und Eisfeldern entspringen. Hoch oben zwischen finsterem Zackengemäuer sieht man die blauen Gletscherzungen herabhängen, aus denen diese Sturzbäche kommen. Und wieder treten die Thalwände näher zusammen. Der einwärts führende Weg ist nun nicht mehr fahrbar; als steiniger Saumpfad nur zieht er sich steil empor, durch stundenlange Einöden, bald am rechten, bald am linken Ufer des tosenden Gletscherbachs, über schwankende Balkenbrücken, an schwindlig jähen Felswänden oder über wüste Schuttwälle hinweg. Dann öffnet sich das Thal noch einmal; sein letztes höchstes Dorf begrüßt uns: ein Haufen brauner Holzhäuser, zu Füßen einer schmucklosen grauen Steinkirche. Ringsum grünes Gehügel und über ihm ansteigend graue Bergflanken; wo sie etwa einen Durchblick gestatten, sieht man weiße Eismassen niedersteigen und im fernsten Hintergrunde einen in blinkendes Schneekleid gewandeten Hochgipfel aufragen. Das Dorf ist wie ausgestorben; nur ein paar Kinder, die an einem Zaune sitzen, schauen uns mit großen schwarzen Augen verwundert an.
Und weiter geht’s, wieder stundenlang, zu den letzten Thalstufen empor, durch Engen und Schluchten, an steinigen Hängen hinan. Noch einzelne Bäume zeigen sich an diesen Hängen: verwitterte seltsam geformte Zirbelkiefern, deren zähes Wurzelwerk im Felsboden sich einen rauhen Stand gesucht hat. Dann bleiben auch sie zurück; und wie der Thalgrund sich wieder öffnet, ist er zu einem riesigen Amphitheater von Fels und Eis geworden. Zwischen nackten Riffen und Hörnern, die nur am Fuße noch hier und da den Anflug spärlicher grüner Moosbekleidung zeigen, wälzen sich, von himmelblauen Spalten durchsetzt, breite Eisströme herab, deren Ursprung stundenweite Firnfelder sind. Und über diesen türmen sich noch in geisterhafter Schönheit die höchsten Zinnen und Zacken des Gebirges empor: blinkende Schneespitzen, nur an den Schultern unterbrochen von schwärzlichen Klippen oder blaugrünen Eisbrüchen. Der Boden dieses Hochthales aber ist ein Spielplatz der Gletscherbäche, die hier von allen Seiten her als weiße Fäden über die Moränenwälle und die letzten grünen Matten herabkommen. Hoch über einem dieser Moränenwälle, auf isoliertem Felshügel, schimmert noch ein kleiner Steinbau in der Abendsonne: eins von den Unterkunftshäusern, die der Alpenverein an den Enden der Hochthäler errichtet hat, dort, wo die letzten gebahnten Pfade enden, wo der Wanderer, der noch weiter will, sich den Steig durch die schreckhaften Eisgefilde selber bahnen muß.
So ist der Charakter der Landschaft in den Thälern, die zum mittelsten Eiskamm der Tiroler Alpen hinanführen, zu jenem Eiskamm, der von Westen nach Osten, nur an wenigen Stellen zu tieferen Pässen eingeschnitten, das Land durchzieht.
Haben wir diesen Kamm überstiegen, so erschließen sich neue Gebirgsbilder. Aber sie sind von ganz anderer Art. Andere Gesteine bauen sich in abenteuerlichen Formen vor uns aus; statt des dunklen Fichtenwaldes, der auf der Mitternachtsseite der Alpen uns umrauschte, grüßen uns die saftigen Wipfel der Edelkastanie und des Weinstockes zierliches Blätterwerk in den Thälern und an den tieferen Thalwänden. Und wandern wir aus einer der großen Thalfurchen hinauf ins Gebirge, so staunen wir über die Mannigfaltigkeit der Gesteine, die dort aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sind. Über rebenumrankte, rote Porphyrkuppen führt uns der Pfad empor; dann wieder an brüchigen Schieferwänden entlang, wo der verwitterte Steig unter den Füßen des Wanderers abglitscht. Und dann erreichen wir eine wellige grüne Hochfläche, aus der wie Trümmer[S. 6] fabelhafter Riesenbauwerke die weißen Kolosse der Dolomite aufragen. Türme, Hörner und Zähne von unglaublichster Gestalt. Wir wandern über die Hochfläche hin an Schlünden vorüber, die, von pechschwarzem Porphyr gebildet, wie Zugänge zur Unterwelt uns angähnen. Zwischen zwei unersteiglich scheinenden Naturburgen aus Dolomit überwandern wir ein grünes grasiges Joch und schauen jenseits in eine völlig rätselhafte Landschaft. Denn vor uns liegt eine Unzahl von einzelnen Berggruppen. bald steile Türme; dann wieder ausgedehnte breite Felsmassen; dazwischen öde steinige Gassen, die in eine ganz fremde Welt zu leiten scheinen. Hier ist alles überraschend; die Landschaftsbilder wechseln unaufhörlich. Und wenn wir, der Felsenwanderung müde, ein Gefährt besteigen, das uns ins Hauptthal zurückführen soll,[S. 8] rollen wir nach wenigen Stunden wieder auf prächtiger, vielfach gewundener Kunststraße thalabwärts in ein immer üppiger werdendes Gefilde, wo uralte Nußbäume und Kastanien ihren Schatten werfen, Schlinggewächs die Dächer der italienisch aussehenden Häuser überrankt und Reben über die Mauern hereinhangen. Und an den fruchtreichen Gehängen, nach der Tiefe des breiten Stromthales zu, sehen wir noch in meilenweiter Ferne Ortschaften, Kirchen und Burgen erglänzen, über denen sich rote Felsenberge mit grünen Hochflächen aufbauen. Aber selbst auf den Hochflächen, in schwindelnder Höhe über der Thalsohle, schimmern als weiße Pünktchen noch friedliche einsame Ansiedelungen, und in viel weiterer Ferne noch erscheinen wie Traumgestalten wieder die stolzen duftumflossenen Schneehäupter, die des Landes Marksteine bilden.
Abermals nimmt uns die stählern dröhnende Maschine mit, thalabwärts, in die Sonnenglut südlicher Landschaft. Sie reißt uns an heißen Bergwänden entlang durch Gartengefilde, wo aus lichtem Grün schon einzelne dunkle Cypressen ragen. Und endlich landet sie uns am Strande eines großen blauen Wassers. Fremdartige Blumenschönheit nickt uns aus dieser Landschaft entgegen; welsche Laute schlagen an unser Ohr. Über die Felsenufer, an die azurne Wellen mit wunderbarem Glanze plätschern, wandern wir nach einem Hain von Ölbäumen, durch dessen schlanke Baumgestalten trauernde Griechengötter wandeln könnten. Noch sind wir im Land Tirol; aber seine südlichsten Felsenpfeiler leuchten im Abendgolde über unserem Haupt; und noch weiter südlich, wo unser Blick an einem fernen Vorgebirge vorüberfährt, liegen vor ihm, von grauem Gewitterdunst überlagert, als weites Flachland die vielumkämpften Schlachtfelder der Lombardei.
Tirol ist das am meisten nach Westen vorgeschobene Land der österreichisch-ungarischen Monarchie. Und es ist zugleich dasjenige Land, welches, von deutschen Volksstämmen besiedelt, am vollendetsten als Übergang aus Deutschland nach Italien erscheint. Die Lage Tirols ist nicht österreichisch — so gut österreichisch auch das Herz des Volkes schlägt.
Gestalt und Zugänglichkeit der Grenzen mußte vom größten Einfluß auf die Berührung mit den Nachbarländern und Nachbarvölkern sein. Am offensten erscheint die Grenze immer noch nach Norden hin.
Wohl bauen sich da die nördlichen Kalkalpen als riesiger Grenzwall gegen Bayern auf; aber dieser Grenzwall hat doch eine ganze Reihe von breiten Pforten: das Rheinthal, das Lechthal, den Fernpaß, das Loisachthal, die Achenseefurche, das Innthal und das Thal der Kitzbühler Ache. Durch diese Zugänge konnten jene Volksstämme, die jeweils die Hochebene südlich der Donau inne hatten, in das Herz des Berglandes eindringen. Weniger zugänglich erscheint die nach Südosten, gegen Salzburg, Kärnten und Venetien gerichtete Grenze und die Westgrenze, die an die Schweiz und an die Lombardei stößt.
Der gesamte Flächeninhalt der „gefürsteten Grafschaft“ Tirol beträgt 26683 qkm; hierzu kommt Vorarlberg mit 2602 qkm. Beide Länder bilden zusammen eines der Kronländer von Österreich, mit zusammen 928769 Seelen, die sich auf 1002 Gemeinden in 2140 Ortschaften verteilen.
In seiner Grundform erscheint das Land Tirol als ein etwas schräges Dreieck. Die Nordseite dieses Dreiecks legt sich an die Südgrenze von Bayern. Die Westfront stößt mit ihrer Nordwestecke an den Bodensee; in sie dringen der Schweizer Kanton Graubünden und das zur Lombardei gehörige Veltlinthal tief ein. Die Südspitze des Dreiecks ist stumpf und durch den Gardasee gespalten, die nach Südosten stehende Seite lehnt sich an die italienische Provinz Venetien und weiter nördlich an die österreichischen Alpenländer, wo der Paß Strub die nordöstliche Ecke des Dreiecks bildet.
Die nördliche breite Hälfte dieses Dreiecks, zwischen deutschen Ländern gelegen, trägt durchaus deutschen Charakter, obwohl die Orts- und Bergnamen romanischen Klang haben. Die Südspitze des Ländchens dagegen, die wie ein Keil zwischen die Lombardei und Venetien eindringt, ist italienisch; italienisch ist der Charakter der Landschaft, italienisch zum größten Teil die Bevölkerung.
Erfaßt man das Land als Grundlage des menschlichen Lebens, so läßt Tirol deutlich zwei große Furchen erkennen, in denen dieses Leben gesät ist und wächst. Die eine dieser Furchen legt sich quer durch Nordtirol; sie beginnt im Westen in der Tiefe des Rheinthales und zieht über den Arlberg und Innsbruck nach Osten, bis ihr an der Ostgrenze Tirols das Steingebirge von Lofer einen Wall entgegenschiebt. Die andere dieser Furchen zieht in nordsüdlicher Richtung von Innsbruck über den Brenner nach Bozen und weiter über Trient nach Verona. Fast nur durch das, was in diesen Furchen atmet und sich regt, ist Tirol mit der Geschichte und den übrigen Völkern in Verbindung getreten. Wer freilich des Landes Wesen und Eigenart genauer prüft, findet leicht, daß diese Furchen durch ein Geäder von Seitenthälern mit dem ganzen Lande in lebendiger Verbindung sind und durch dieses Geäder Kraft und Lebensstoff aufnehmen.
Die Alpen erfüllen Tirol vollständig. So vollständig, daß nur das Dorf Erl im Unterinnthale und Bregenz am Bodensee in flacheres Land hinausschauen, wenn auch diese beiden Ortschaften noch selber an den Fuß der Alpen sich lehnen. Und im Süden — ja, vom Hafen von Torbole am Gardasee vermag man in die lombardische Ebene zu blicken; auch dort ist eins von den wenigen Fenstern, durch die der Blick ins Flache führt.
Sonst überall Berge, Berge, Berge!
Die Ketten der Alpen, welche Tirol in ostwestlicher Richtung durchziehen, lassen deutlich einen dreifachen Wall unterscheiden. In Mitte des Landes die in einer Reihe von Gruppen auftretende Kette der Centralalpen; nördlich und südlich von ihr die durch die Innfurche, sowie durch die Thaltiefen des Vintschgau und des Pusterthales abgegrenzten nördlichen und südlichen Kalkalpen. Die Centralalpen sind nicht bloß aus anderem Gestein aufgebaut, als die Kalkalpen; sie haben auch andere Berg- und Thalformen, anderes Natur- und Menschenleben. Der stärkeren Eisbedeckung der Centralalpen entspricht ein größerer Wasserreichtum; den anders ausgebauten Gehängen eine andere Form der Ansiedelung und des Verkehrs, als wir sie bei den Kalkalpen finden.
So leicht es erscheint, einen allgemeinen Einblick in den Aufbau des Landes zu erhalten; wenn man in die Einzelheiten eingeht, wird derselbe zu einem recht verwickelten Gefüge. Denn die Natur eines Berglandes hängt ja einerseits von der Art der die Erdrinde bildenden Gesteine ab und andererseits von Thatsachen, die mit der Mischung dieser Gesteine nur zum Teil im Zusammenhange stehen. Die Gesteinsarten verleihen der Landschaft gewisse eigenartige Gesichtszüge und Einflüsse auf das Menschenleben; aber neben diesen Gesichtszügen und Einflüssen wirken auch jene, welche die Berglandschaft von unten herauf in verschiedene Höhen gehoben, sie in ihren einzelnen Teilen gefaltet, hier zusammengedrückt, dort auseinander gespannt, hier sanftere, dort steilere Böschungen geschaffen haben. Die ungeheuren Naturrevolutionen, die vor unzähligen Jahrtausenden diese Landschaft schufen, sind nicht immer von den gleichen revoltierenden Naturmächten ausgegangen; darum findet sich hier Erklärliches und Unerklärliches, Verwandtes und Fremdestes hart aneinander gerückt und durcheinander geworfen.
Die Centralalpen erscheinen bei näherer Betrachtung als eine zusammenhängende Reihe von Massenerhebungen. Jede einzelne dieser Massenerhebungen weist wieder ihre besondere Gliederung auf; sie zerfällt in Unterabteilungen, bei deren Aufbau bald ein strahlenförmiges Auseinandergehen der Bergkämme von einem gemeinsamen Mittelpunkte, bald die Erscheinung eines Hauptkammes zu beobachten ist, von welchem mehr oder weniger gekrümmte Seitenzweige auslaufen. Von Westen nach Osten gerechnet, lassen die Centralalpen in Tirol folgende Hauptgruppen unterscheiden:
Die Silvrettagruppe (Abb. 2), an der Grenze von Tirol und Graubünden, „ein aufgerissenes Gewölbe mit steil aufgerichteten Schalenstücken, die zu auffallend wilden Graten und Felshörnern verwitterten,“ besteht aus Gneis, Glimmerschiefer und Hornblendegestein. Letzteres verleiht ihren Felsgipfeln unheimlich dunkle Färbung; sie trägt ausgedehnte Eis- und Firnbedeckung und ist daher im Inneren wild und unwegsam. Ihr höchster Tiroler Gipfel ist das Fluchthorn (3408 m); von größeren Thälern entsendet sie nach Nordwesten[S. 12] und Nordosten das Montafon und Paznaun, westwärts zur Schweiz das Prättigau; im Süden stürzt sie mit kurzen Thälern zur tiefen Einsenkung des Innthales. Nordwestlich schließt sich an sie die geologisch und geographisch zu ihr gehörige Samnaungruppe, ein Vorbau, der im Muttler (3299 m) kulminiert; zur nördlichen Vorlage hat sie die schöne Fervallgruppe.
Durch die tiefe Innschlucht beim Passe Finstermünz (Abb. 3) ist von dieser Gruppe die nächst östliche getrennt: die Ötzthaler und Stubaier Gruppe. Diese gleicht einem ins Herz des Tiroler Landes geschleuderten doppelten Eisstern, von dessen Mittelpunkten ungleich lange Strahlen nach den verschiedenen Weltrichtungen hinabziehen. Der westlichere dieser beiden Eissterne hat nicht weniger als 550 qkm Bodenfläche unter seinen Gletschern begraben; er gipfelt in der Wildspitze (3774 m). Seine einzelnen Ausstrahlungen bilden fortlaufende Eiswälle, zwischen denen die Thäler hoch hinansteigen, so daß in ihnen die letzten Ansiedelungen in Höhen über 2000 m liegen. Der Kern des Gebirges besteht hier aus Granit und Gneis, aus großen Strecken überlagert von Glimmerschiefer, der die schärfsten, stark verwitterten Zacken und Riffe über die Eisfelder aufstreben läßt. Die Thäler sind, soweit sie sanftes Gehänge haben, hoch hinauf noch wohnlich; in der Umgebung der letzten Ansiedelungen endet der Baumwuchs; aber grüne, von Gletscherbächen übersprudelte Matten ziehen sich noch bis zu den ungeheuren Moränenwällen der Gletscher empor. Ihre größten Thäler sendet die Gruppe als Kaunserthal, Pitzthal, Ötzthal und Stubai nordwärts zum Innthale, als Passeier- und Schnalserthal südlich zum Vintschgau. An sie schließt sich im Südosten, als niedriger Vorbau, die Sarnthaler Gruppe, ein nach Süden offenes Hufeisen, ohne Eisbedeckung, mit viel geringeren Erhebungen, der zugänglichste und wohnlichste Teil der Centralalpen.
Mitten in ihrem Zuge durch Tirol wird die Kette der Centralalpen durch die tiefe Einsattelung des Brenners unterbrochen. Ostwärts von diesem erheben sich die Zillerthaler Alpen, aus drei Gruppen bestehend, nämlich aus dem zunächst am Brenner liegenden Tuxer Kamme, dem dann der Zillerthaler Hauptkamm mit dem Hochfeiler als Kulminationspunkt (3523 m) folgt; an ihn schließt sich nordöstlich die Reichenspitzgruppe. Die Zillerthaler Alpen weisen furchtbar wilde Gipfelformen, tiefe schluchtartig eingerissene Thäler mit grimmigen Steilwänden, scharf zerfurchte Gletscher auf. Sie sind reich an mannigfaltigen Mineralien, aber unwirtlich für die menschliche Ansiedelung. Nur zwei größere wohnliche Thäler ziehen sich nach der Gruppe empor, weiter einwärts gähnen nur noch menschenleere düstere Schlünde.
Südlich vom Zillerthaler Hauptkamm erhebt sich noch die kleine Rieserfernergruppe, gleichfalls in kühnen, scharfen Formen ansteigend, bis zum Hochgall (3440 m). An sie legt sich, weit nach Osten streichend, das zahme unbegletscherte Defereggergebirge.
Der Hauptkamm der Centralalpen aber setzt sich in der mächtigen Tauernkette fort, die von der Reichenspitzgruppe durch die tiefen Einsattelungen des Krimmler Tauern und der Birnlücke getrennt ist. Von der Tauernkette stehen nur zwei Gruppen, und auch sie nur teilweise, auf Tiroler Boden: die Venediger- und die Glocknergruppe.
Die Venedigergruppe ist eine bedeutende, mit riesigen Eismassen bedeckte Erhebung, im Großvenediger bis zu 3660 m ansteigend, größtenteils aus Granit bestehend. Von der Tiroler Seite ziehen sich das Ahrnthal, das Defereggenthal, das Virgenthal mit seinen Seitenschluchten, das Froßnitzthal und das Tauernthal in die Eisgefilde der Gruppe hinan. Die meisten dieser Thäler, sowie die von Norden in die Gruppe eingerissenen Schluchten sind arm an Ansiedelungen, so daß die ganze Gruppe als eine der vom Menschenleben am wenigsten angetasteten Hochburgen jungfräulicher Naturschönheit erscheint.
Östlich von der Venedigergruppe erreicht die Tauernkette in der Glocknergruppe ihre großartigste Massenentwickelung. Als nordöstlicher Grenzpfeiler Tirols schwingt sich hier der Großglockner bis zur Höhe von 3798 m empor (Abb. 1). Die Felsunterlage der Gruppe ist Gneis mit Glimmerschiefer, die Bergformen scharfe, ausgesägte Schneiden und Zähne. Aus Tirol zieht nur ein einziges Thal, das Kalser Thal, in das[S. 14] Herz der Gruppe, welche nach Süden zu noch einen Vorbau, die Schobergruppe, angehängt hat. Mit dem Großglockner findet der Zug der Centralalpen in Tirol sein östliches Ende.
Nördlich von der Centralkette erstreckt sich durch ganz Tirol die Kette der Kalkalpen. Sie hat ein ganz anderes landschaftliches Gesicht, als die Centralalpen. Wie die Centralalpen steigen auch die Kalkalpen von Norden her allmählich an, um nach Süden zu jäh abzubrechen. Aber das Kalkgestein ist bei der Entstehung der Gebirge in ganz anderer Weise geknickt und gebogen worden, als die Gesteine der Centralalpen. In den Kalkalpen finden wir steile weißgraue Mauern und Türme, die aus grünen Wald- und Wiesenthälern jäh und unvermittelt hervorbrechen. Wir finden da nicht selten mehrfache, parallel laufende Ketten nebeneinander; und die einzelnen Ketten sind nicht bloß durch Einsattelungen, sondern durch tiefe Thäler voneinander geschieden.
Den Anfang der nördlichen Kalkalpen Tirols macht im Westen der Rhätikon mit der 2967 m ansteigenden Scesaplana. Dann sehen wir die Kette durch den tiefen Einschnitt des Illthals unterbrochen, jenseits desselben aber wieder emporsteigen zu den sanfteren Gehängen des Bregenzer Waldes und den höheren, schroffen und zerzackten Formen der Lechthaler Alpen. In diesen erreicht die Parseierspitze die stolze Höhe von 3038 m, als bedeutendste Erhebung der Nordkalkalpen. Diese werden dann von der Spalte des Fernpasses durchbrochen und setzen sich hierauf in mehreren Ketten fort, indem die bayerisch-tirolische Grenze durch die Wettersteinkette mit der 2964 m hohen Zugspitze gebildet wird, während südlicher die Mieminger Gruppe sich entlang zieht mit der hohen Griesspitze (2759 m). Es folgt nun wieder eine Unterbrechung durch die kleine Hochfläche von Seefeld und den Paß der Scharnitz; dann setzen sich die Hochkalkalpen in vier zerrissenen Parallelketten fort als Karwendelgebirge, mit der[S. 16] Birkkarspitze (2756 m) als höchster Erhebung. Das Karwendelgebirge verliert nach Osten zu bedeutend an Höhe und sinkt zur tiefen Furche des Achensees herab. Östlich von diesem baut sich die Rofangruppe noch stattlich empor (2299 m); dann aber sinken Gipfel und Kammhöhen mehr und mehr in die Tiefe; und erst jenseits des Inndurchbruchs bei Kufstein entwickelt der Kalk wieder seine künstlerische Plastik im Kaisergebirge, dessen furchtbar wilde Formen bis ins Flachland hinaus imponieren, obgleich es in seinem Kulminationspunkt, der Elmauer Haltspitze, nur 2344 m erreicht. Den östlichen Eckpfeiler der Nordkalkalpen in Tirol bilden die Loferer Steinberge (2634 m), als Grenze Tirols gegen Salzburg.
Ewigen Schnee tragen die Nordtiroler Kalkalpen genug in ihren höheren Runsen und Schluchten; kleine Gletscher nur im Rhätikon, in den Lechthaler Bergen und im Wettersteingebirge, wo aber der Plattachferner und Höllenthalferner auf bayerischem Gebiete liegen.
Im Nordosten von Tirol stoßen die Kalkgebirge nicht unmittelbar an die Centralalpen. Hier hat sich zwischen beide Hauptgebirgsglieder ein drittes eingeschoben: das aus Thonschiefer und älteren Kalkformationen bestehende Übergangsgebirge. Dieses Gebirge legt sich, sanft zum Innthal abgedacht, nördlich vor die Zillerthaler Alpen und vor die Tauernkette, von letzterer durch die Salzach getrennt. Einzelne seiner Gipfel steigen bis über 2500 m an. Das ganze Gebirge macht, zwischen den Eiskämmen der Centralalpen und den grotesken Zinnen der Hochkalkalpen, einen unscheinbaren Eindruck. Alle auffallenden Formen fehlen; langgestreckt ziehen sich die Bergprofile mit geringer Neigung empor, bis zu den Gipfeln hinauf mit Gras bewachsen. Nur in Höhen über 2000 m färbt das Grün sich bräunlich; der nackte Fels kommt mehr und mehr zum Vorschein. Die wertvollen Mineralschätze, die dieses Übergangsgebirge vor Zeiten in seinem Schoße barg, sind großenteils versiegt, aber seine ergiebigen Matten hat es behalten; seine Thäler und Almen sind Hauptsitze der Tiroler Viehzucht.
Die südlich von der Centralkette gelegenen, von ihr durch das obere Etschthal und das Pusterthal geschiedenen Alpen werden durch das untere Etschthal deutlich in eine westliche und eine östliche Hälfte geschieden. Die südwestlichen Alpen Tirols aber bestehen wieder aus drei Gruppen: der Ortlergruppe, der Adamellogruppe und der Brentagruppe.
Die erstere, aus Glimmerschiefer, Granit und Kalk aufgerichtet, bildet den gigantischen Grenzbau zwischen Tirol, der Schweiz und Italien. Im Ortler (Abb. 4) selbst erreicht sie die höchste Erhebung der österreichischen Alpen mit 3902 m, in der Königsspitze (Abb. 5) eine solche von 3857 m. Bei großer Massenerhebung zeigt die Gruppe imponierende Gletschermassen und tief eingeschnittene Thäler, während die von ihr nach Osten zu ausstrahlenden Nonsberger Alpen, aus Kalk und Porphyr bestehend, keine Vergletscherung mehr haben und zu den zugänglichsten, kulturfreundlichsten Strecken Tirols gehören.
Die einsame und entlegene Adamellogruppe (Abb. 6) stößt an die (italienischen) Bergamasker und Brescianer Alpen. Sie legt sich als mächtiges Hufeisen um den obersten Lauf der Sarca, nach Osten zu offen. Den nördlichen Arm dieses Hufeisens bildet die wilde Presanellagruppe, den südlichen, größeren, der Adamello (3548 m) mit seinen Trabanten: eine große Eisfläche, auf schönem, weißem Hornblendegranit aufliegend, von Glimmerschiefer umlagert, mit wilden und kühnen Formen.
Die Brentagruppe ist eine schöne, charakteristische Erhebung zwischen der Adamellogruppe und der Etsch, im Norden vom Thal des Nonsberges (Val di Non), im Süden vom Sarcathale begrenzt. Aus Dolomit bestehend, zeigt sie dessen mächtig zerrissene, kühn gestaltete Felsformen in auffallender Weise, trägt aber dabei auch noch einen gewaltigen Gletschermantel zwischen ihren Zinnen und Türmen (Abb. 7). Sie zerfällt in eine nördliche und südliche Hälfte und steigt in ihrem Hauptgipfel, der Cima Tosa, bis zu 3176 m an.
Noch ist das letzte Gebiet der Tiroler Alpen zu betrachten: jene ausgedehnten, mannigfachen und merkwürdigen Bergmassen, welche sich im Südosten des Landes, vom Pusterthal im Norden, vom Etschthal im Westen begrenzt, erheben und nach Ost und Süd über die Landesgrenze nach Kärnten und Italien hinüberziehen. Im Munde der Reisenden heißt diese Gebirgsmasse[S. 18] schlechtweg die Dolomiten. Sie verdient diesen Namen aber nur deshalb, weil ihre merkwürdigsten, auffallendsten Berggestalten aus Dolomit bestehen. Thatsächlich finden wir die mannigfaltigsten Gesteinsarten in dieser Gebirgsmasse vertreten: schwarzen und roten Porphyr, Dolomit und Glimmerschiefer, Sandstein und Granit. Die stolzesten Erhebungen aber gehören dem Dolomit an.
Da findet man höchst eigenartige Landschaftsbilder: in der Tiefe der Thäler ein reich mit Grün überkleidetes, oft wohlangebautes, wellenförmiges Gehügel, aus Porphyr oder, im Norden, aus Glimmerschiefer bestehend, und darüber, in den verwegensten Formen aufragend, scharfkantig und der Verwitterung trotzend, Türme, Zacken und Zinnenmauern, die wie aus der Erde hervorgestoßen erscheinen, wie lauter Reste von zertrümmerten Riesenburgen. Und diese seltsamen Gebilde erscheinen, je nachdem sie von Regen benetzt, von der Sonne beglänzt oder von Wolken überschattet sind, bald rosenrot oder silberweiß, bald braun wie Asphalt, rot wie glühendes Eisen, aschgrau, tief indigoblau oder goldgelb.
Den reichsten Wechsel bieten die Landschaften der westlichen Dolomiten, schon wegen des merkwürdigen Übergangs aus der Tiefe des üppig-schönen Etschthals zu den unwirtbaren Felswüsten. Hier erheben sich die wundersamen Berggestalten des Schlern (2565 m, Abb. 8), des sagenreichen Rosengarten (3002 m, Abb. 9), der mächtigen plateauartigen Sellagruppe (3152 m, Abb. 10), der grimmig aufgetürmten Langkofelgruppe (3178 m, Abb. 11) und der die ganzen südöstlichen Alpen Tirols beherrschenden Marmolata (3360 m, Abb. 12). Zahlreiche, großenteils gut gangbare Joche führen zwischen diesen merkwürdigen Felsgestalten hindurch, die Thäler Gröden, Gaderthal und Fassa verbindend.
Südöstlich dieser Gruppe erheben sich die Trientiner Alpen in der Pala- oder Primörgruppe zu höchst abenteuerlichen Gipfelzacken, Felshörnern und klippigen Hochebenen (Abb. 13). In diesem Grenzwall gegen Italien steigt der furchtbare Cimon della Pala bis zu 3186 m, während eine zweite Hochburg, die Pala di San Martino, 2996 m und die Cima di Vezzana 3194 m erreicht.
Gleich großartig, vielleicht wegen des auffallenderen Gegensatzes zu fruchtbaren Thaltiefen noch malerischer, wirken die Dolomiten von Ampezzo und Cadore, zwischen dem Pusterthale, dem Gader- und Abteithale, dem Thale von Cordevole, dem Rienz- und Piavethal. Auch hier finden sich eine Reihe von einzelnen charakteristischen Gebirgsmassen, die durch gangbare Joche untereinander zusammenhängen. Die namhaftesten darunter sind der Monte Cristallo (3199 m, Abb. 14), Piz Popena (3143 m), Croda Rossa (3148 m), Tofana (3241 m), Sorapiß (3229 m).
Östlicher schließen sich an diese die Dolomiten von Sexten und Lienz; ebenfalls im Norden durch das Pusterthal begrenzt, bilden sie das letzte Gebiet der Südtiroler Alpen gegen Kärnten, nach Osten an Höhe bedeutend abnehmend. Ihre berühmtesten Gipfel sind die drei Zinnen (höchste 3003 m, Abb. 15) und die Dreischusterspitze (3162 m); nach Osten zu gehen sie in das Gebiet der Karnischen Alpen über.
Kleinere abgeschlossene Gruppen endlich legen sich noch im äußersten Süden Tirols an die vorgenannten an. So die im Westen des Gardasees gelegene Gruppe, die, vom Val Bona, vom mittleren und unteren Sarcathal umgrenzt, nach der lombardischen Ebene sich senkt. Ferner die Gruppen zwischen dem Sarcathale, dem Gardasee und dem Etschthale, wo der lang von Nord nach Süd gestreckte Monte Baldo den Grenzpfeiler gegen Italien bildet; endlich die durch das Etschthal und das Val Sugana vom übrigen Tirol abgeschnittenen Teile der Venetianischen Alpen.
Diese kleineren Gruppen sind wie Gartenterrassen oder Veranden, die aus der eisüberdachten Zauberburg der Alpen nach den Gartengefilden Italiens vorgeschoben sind.
Zwischen den einzelnen Gruppen der Tiroler Alpen findet sich kein Platz für eigentliche Ebenen. Da und dort erweitert sich wohl einmal ein Thalboden, wie das Rheinthal bei Bregenz und Feldkirch, das Innthal an einzelnen Stellen, das Etschthal bei Bozen. Aber das sind keine Ebenen; nur Weitungen, die dem Auge gestatten, nach einem Horizont zu suchen; aber sofort stößt der Blick wieder an die Mauern, die diese kleinen Höfchen der Zauberburg allerwärts umstarren.
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Wasserreich, wie die Alpen überhaupt, sind auch die Tiroler Berge und Thäler. Regen, Schnee und Nebel werden von der Pflanzendecke der Thalwandungen aufgesogen und ergießen sich als Quellen und Bäche thalabwärts; die ewige Schnee- und Eisbedeckung der höheren Lagen, im Winter wachsend und im Frühjahr und Sommer unter dem Einfluß der Sonne und warmer Luftströmungen wieder abschmelzend, versieht die Bäche und Flüsse mit Nahrung. Als riesiges Dach sendet das Land seine Abflüsse durch den Rhein nach der Nordsee, durch die Donau nach dem Schwarzen Meere, durch die nach Venetien geneigten Thäler in das Adriatische Meer.
Die Quellenbildung ist in den Tiroler Bergen sehr verschieden nach der Natur des Gesteins. In den hoch hinauf mit Moos bewachsenen, aus Granit, Gneis und Glimmerschiefer bestehenden Urgebirgen rieseln überall Quellen; das Gestein nimmt die Wasser nicht in seine Tiefen auf, sondern leitet sie auf seinem Rücken fort. In den Kalkalpen dagegen, deren Gestein mannigfache Hohlräume hat, sickern die an der Oberfläche aufgenommen Wasser größtenteils in diese Hohlräume ein, um erst weiter unten gegen die Thaltiefe zu aus ihrer Felsennacht hervorzubrechen.
In den Centralalpen hat jedes Thal, von dem ein Ast bis in die Gletscherregion hinausreicht, seinen Gletscherbach. Diese Gletscherbäche sind weißgraue, undurchsichtige, wildschäumende Gewässer, an deren Ufern man oft genug das Poltern unsichtbarer Felstrümmer vernimmt, die von dem tobenden Wasser fortgewälzt werden. Jedes Thal läßt die unablässig nagende Wirkung des rinnenden Wassers erkennen. Bald haben die Thalbäche sich tiefe schluchtartige Rinnen in den Fels gefressen, bald werfen sie sich, mehrfach zerteilt über Trümmerfelder herab; bald schlängeln sie sich in Windungen durch grüne Wiesengründe, die aber nichts anderes sind, als grasbewachsene Schuttflächen, die auch vor undenklichen Zeiten vom Wasser hier abgelagert wurden. Ehe die Seitenthäler in ein Hauptthal einmünden,[S. 21] haben sehr häufig ihre Bäche flachere Niederungen gebildet.
Die Wasser Nordtirols finden ihren Abfluß größtenteils zum Inn. Er betritt, schon als ansehnlicher Bergstrom, aus Graubünden kommend, den Boden Tirols bei Finstermünz und verläßt ihn, in nordöstlicher Richtung fließend, bei Kufstein. Seine stärksten Zuflüsse erhält er in Tirol durch die Gletscherströme, die ihm aus dem Paznaunthale, aus dem Ötzthale, dem Stubai und dem Zillerthale zugehen. Außerhalb Tirols, schon in Bayern, empfängt der Inn aber noch die Wasser der Kitzbühler Ache, die ebenfalls den Tiroler Bergen ihren Ursprung verdankt.
Neben dem Inn sind es noch, aus westlicher gelegenen Thoren, die Isar mit der Loisach, die auch einen Teil der Wasser Nordtirols nach der Donau führen, sowie der Lech; während die östlichste Abdachung, die der südlichen Tauernthäler, ihren Abfluß durch die Drau nach der Donau zu findet.
Das Vorarlberger Land sendet seine Gewässer durch die Ill und die Bregenzer Ache zum Rhein. Während jedoch die erstere die Gletscherbäche des Montafonerthales aufnimmt und sich in den Rhein wirft, ehe derselbe den Bodensee erreicht, sucht sich die mildere Bregenzer Ache ihren Weg direkt zum Bodensee.
Die Südabdachung Tirols schickt mit Ausnahme jener Gewässer, die sie durch die Drau zur Donau sendet, all’ ihre Abflüsse zum Adriatischen Meere. Und zwar teils durch den Po, der durch Chiese und Mincio die von den Adamelloalpen, von der Brentagruppe und vom Gardasee herstammenden Wasser empfängt, teils unmittelbar durch die Alpenströme Etsch, Brenta und Piave. Unter ihnen ist die Etsch entschieden am bedeutendsten. Von ihrem Ursprung aus der Malser Heide an nimmt sie die gewaltigen Gletscherbäche auf, die der West- und Südseite der Ötzthaler Alpen und dem Nordostgehäng der Ortlergruppe[S. 23] entstammen; durch die Passer empfängt sie abermals Zuflüsse aus den Ötzthaler und Stubaier Alpen; dann wieder aus diesen und aus der Zillerthaler Gruppe durch den wilden Eisack, der ihr auch die Wasser des Ahrnthals, des Pusterthals und die vom Nordabfall der Dolomitalpen zuführt. In ihrem Weiterlaufe nimmt sie noch den Nosbach auf mit Abflüssen der Ortler-, Presanella- und Brentagruppe; und endlich den langen Avisio, dessen oberste Quellbäche von den Eisfeldern der Marmolada sich nähren.
Im Vergleich mit den Schweizer Alpen ist Tirol arm an Seebecken. Immerhin hat das Vorarlberger Land seinen Anteil am Bodensee, Südtirol den seinen am Gardasee. Nur ein einziger größerer Hochgebirgssee, der Achensee, hat sich zwischen die Steilwände der nördlichen Kalkalpen eingebettet; kleiner, aber mit den reichsten landschaftlichen Reizen ausgestattet sind der Molvener See und die Seen von Levico in Südtirol. Dagegen enthält Tirol eine stattliche Anzahl ganz kleiner, nicht selten unmittelbar von den Eiswänden seiner Gletscher überragter Seebecken, die ihren Hochthälern eigentümlichen Zauber verleihen. So der Lüner See unter den Wänden der Scesaplana, der prächtige Plansee an der Nordgrenze, die hochromantischen Seespiegel in der Nachbarschaft des Fernpasses und auf der Malser Heide, der Gurgler Eissee, der Antholzer See, der einsame Antermojasee oder der berühmte Dürrensee, in dem der Monte Cristallo sich spiegelt (Abb. 14), wie der Fedajasee unter den Eismauern der Marmolata, der stille grüne Brennersee, und noch mancher andere.
Unausdenkbar lange Zeiträume haben ihre Schleier über die Geschichte der großartigen Erdfaltungen gebreitet, die heute in den Alpen vor unseren Augen stehen. Aber man darf vermuten, daß da, wo jetzt die stolzen Gipfel aufsteigen, einst ein niedriges, aus Granit und Gneis bestehendes Hügelland sich ausdehnte. Dieses Hügelland war wohl unermeßlich lange Zeit von einem Meere bedeckt, auf dessen Boden sich durch Ablagerung mächtige Schieferschichten bildeten. Einzelne, aus Granit und Gneis bestehende Inselgruppen mochten über dieses Meer emporragen, das in der frühesten Zeit der Erdbildung noch keine organischen Wesen enthielt. Abermals nach unbestimmbar langen Zeiten mögen durch unterirdischen oder seitlichen Druck Hebungen einzelner Teile der Landmasse hervorgegangen sein; die Wasserbedeckung veränderte sich, und es entstand wohl ein lang gestrecktes Festland, etwa der heutigen Centralkette entsprechend. Während dieser Zeiträume bedeckte sich unter dem Einflusse eines heißfeuchten Klimas[S. 24] der über das Meer hervorragende Teil des Alpenlands mit der üppigen Pflanzenwelt der Steinkohlenformation. Hebungen und Senkungen des Landes setzten sich fort; ebenso die Ablagerungen auf dem Meeresgrunde. Wälder wurden überflutet und sanken in die Tiefe; über sie legten sich wieder dicke Schichten kalkigen Schlammes, der in dem Meere zu Boden sank und zur Felsdecke erstarrte. Zwischendurch brachen aus entfernteren Tiefen der Erde mit ungeheurem Drucke gewaltige Porphyrgesteine empor, zertrümmerten und zerrissen die Steinkohlenschichten und bildeten mit mächtigen Trümmermassen zusammen das große Porphyrplateau nördlich von Bozen. Die Alpen waren nun durch fortwährende Hebung trockenes Land geworden, von ungeheuren Waldungen bedeckt. Aber wieder senkte sich der Boden; aufs neue brandete das Meer an die noch niedrige Centralkette. Sand- und Thonlager, Schichten von muschelhaltigem Kalke legten sich neuerdings auf den Grund dieses Meeres hin; Korallen bildeten mächtige Bänke in demselben; immer reicher erscheint die Tierwelt, deren Reste in diesen Sand- und Schlammschichten versinken mußten. Und die unterirdischen Mächte hörten noch immer nicht auf, neue Massen fremdartigen Gesteins aus den Erdtiefen in die Höhe zu drängen. Und dann mochte wohl wieder eine Zeit kommen, in der fast die ganzen Tiroler Alpen unter den Spiegel des Meeres versanken. Aber es war ein neues Meer und eine neue Tierwelt, die in ihm lebte. Und neues Land wuchs wieder am Grunde dieses Meeres und an seinen Ufern. Noch immer mag dieses Land ein niedriges Plateau mit regelmäßig aufeinander gelagerten Schichten gewesen sein, ohne tief eingeschnittene Thäler. Dann aber erfolgten mehrere stärkere Erschütterungen des Alpenlandes und Hebung desselben, in seiner ganzen Breite, über das Meer. Die im Laufe von vielen Zeiträumen, von denen einzelne wohl Millionen von Jahren gewährt haben müssen, übereinander gelegten Schichten wurden gehoben, gespalten und durch den furchtbaren Druck der aufgestiegenen Centralmassen seitlich abgedrängt. Mächtige Schichten wurden dabei gebogen, verschoben, verworfen, ja geradezu umgestülpt; was früher horizontal lag, steil aufgerichtet. Es entstanden Gewölbe, die schließlich zerbarsten und deren Schalen dann als grausige Klippen den Kern, der sie emporgedrückt hatte, umstarrten. Mannigfache Spalten, die sich gebildet hatten, wurden zu Thälern, die dann vom fließenden Wasser weiter ausgewaschen wurden.
Endlich hörten die großen Erschütterungen des Alpenbodens auf. Aber das Wasser, das Eis und die Verwitterung der hoch getürmten Felsmassen begannen nun an der Landschaft zu arbeiten. Nach der letzten Hebung des Bodens, nach der Bildung der Thäler sank die Temperatur des Alpenlandes tief; die Eiszeit brach herein. Ganz Tirol bedeckte ein ungeheures Gletschermeer, aus dem die einzelnen Gebirgszüge als nackte Felsenrisse hervorbrachen. Auf dem[S. 26] Rücken der meilenbreiten Gletscher wurden unermeßliche Schuttmassen thalab getragen, die Erzeugnisse der zusammenstürzenden Steilwände, welche unter dem Einflusse von Wasser und Eis barsten und brachen und den Halt verloren.
Und dann, nachdem auch dies Jahrtausende gewährt hatte, kam endlich wieder ein Zeitalter tauender Lenze; die Gletscher zogen sich langsam zurück in die höheren und höchsten Gebirgswildnisse; die von ihnen befreiten Thäler, die Schutthalden und die glatt geschliffenen Wände bedeckten sich allmählich mit einer Schicht von Erde und Pflanzengrün, und schließlich wurden die Alpen so weit wohnlich, daß aus dem lombardischen Tieflande und von der Donauhochebene her der Mensch einwandern konnte in die Thäler von Tirol.
Die Naturvorgänge aber, die während der Eiszeit begannen, setzen sich unablässig fort. Immer wieder sprengt der Frost die Felsen auseinander; ihre Trümmer stürzen zerkrachend in die Tiefe und auf die Gletscher, wo sie als lange bewegliche Steinwälle weiter abwärts getragen werden. Immer wieder spülen die Regengüsse losen Schutt nach den Thälern; immerfort wälzen die Gletscherbäche polternde Blöcke mit sich. So wird das Land Tirol unmerklich, langsam hinausgespült aus sich selber, in die Adria und in das Schwarze Meer.
Tirol hat eine große lachende Sonnenseite: die Abdachung der Centralkette nach Süden. Und dieser entgegengesetzt das schattigere winterliche Nordgehäng gegen das Innthal und weiterhin gegen die bayerische Hochebene. Wie eine Riesenmauer trennen die Alpen das rauhere Klima Deutschlands von dem milderen Himmel Italiens. Schneestürme sausen um die Scharnitz, während man im Bozener Thalkessel unter blauem Sommerhimmel die Traube einheimst.
Und wie das ganze Land an seiner nördlichen und südlichen Abdachung die größten Gegensätze aufweist, so auch die einzelnen Thäler. Jedes in ostwestlicher Richtung verlaufende Thal hat seine nach Süden gekehrte sonnseitige Thalwand und seine Schattenseite. Den Bewohnern der Sonnenseite kommt der Frühling um Wochen früher, ihr Jahr ist wärmer und ihr Herbst weicht später dem Winter, als denen, die an der Schattenwand hausen. Und auch die von Süd nach Nord verlaufenden Thäler haben doch wieder ihre Biegungen, ihre Seitenschluchten und Mulden, wo nach Süden gewandte Gehänge kleine sonnseitige Winkel bilden. Man begreift, daß sich die menschliche Ansiedelung mit aller Macht nach der Sonnenseite gezogen hat. Wo freilich, wie im unteren Innthale, die nach Süden gewandten Thalwände ganz steile[S. 27] Felsenmauern sind, während die entgegengesetzten Gehänge sanft ansteigen: da mußte man eine Ausnahme von dieser Regel machen.
Wohl sind die hohen Lagen im ganzen kühler, als die tieferen. Aber die Gegensätze von Warm und Kalt werden nach oben zu nicht schärfer, sondern milder. So kommt’s, daß den zu höchst gelegenen Ansiedelungen nicht etwa der winterliche Frost ein besonders grimmiger Gegner ist, sondern mehr die furchtbaren Schneemassen, die sie oft wochenlang von der Thaltiefe völlig abschneiden. Die dauernden menschlichen Wohnsitze reichen in Tirol viel höher hinauf, als in den deutschen Mittelgebirgen. Das gilt schon für die Nordhälfte des Landes. Die südliche Hälfte aber erfreut sich eines Klimas, wie es, soweit die deutsche Zunge klingt, sonst nirgends vorkommt. Die gesegnetsten Lagen des Rheingaus werden weit übertroffen durch das Klima des Etschthales von Bozen abwärts. Während der Winter in Nordtirol ungefähr ebenso lang und so streng ist, wie in Deutschland, rechnet man seine Dauer im Bozener Gebiet nur nach Wochen; im unteren Sarcathale aber ist nur ein Schritt vom Spätherbste zum Vorfrühling. Der Sommer Nordtirols möchte wohl heißer sein, als der deutsche; aber er kommt nicht dazu, weil die Sonne hinter den Bergrücken später aufsteigt und früher versinkt. In Südtirol ist der Sommer durchaus italienisch, so daß die Bewohner genötigt sind, aus den heißen Thaltiefen herauf wochenlang in die frischere Luft der Berghöhen zu fliehen.
Während im Flachlande Schnee und Eis nur durch einige Winterwochen eine Rolle im Landschaftsbilde, in den klimatischen und wirtschaftlichen Zuständen spielen, behaupten sie diese Rolle in einem Hochgebirgslande das ganze Jahr hindurch. Von der gesamten Grundfläche Tirols sind 4764 qkm unproduktives Land: Felsenflächen, die entweder für immer mit einer dicken Last von Schnee und Eis bedeckt sind oder doch wegen ihrer hohen Lage[S. 28] und ihrem gänzlichen Mangel an Erdbedeckung nur Spiel- und Tummelplätze des ewigen Winters bilden. Ungefähr der sechste Teil des Landes ist nicht bloß allem Anbau unzugänglich, sondern geradezu eine Hochburg, von der aus Stürme, Eis- und Schneelawinen, Steinströme, Schlammfluten und Wildwasser die menschlichen Ansiedelungen und landwirtschaftlichen Werkplätze heimsuchen. Die Firn- und Eismassen, welche in meilenbreiter Ausdehnung die höchsten Kämme und Gipfel decken, nehmen einen dauernden Einfluß auf die Natur des ganzen Landes und durch sie auch auf die Menschen. Der Natur der Hochthäler verleihen sie einen starren gewaltthätigen und menschenfeindlichen Hintergrund; den Menschen nötigen sie zu Kämpfen und Sorgen, von denen sich die Bewohner der Flach- und Hügelländer keine Vorstellung machen. Nicht als ob diese Firn- und Eismassen eine bedenkliche Abkühlung der Thäler bewirkten. Es ist keine Eiskellerluft, die sie erzeugen, sondern eine wohl mitunter eisige, dabei aber kräftige und überaus reine Luft, die aus ihnen zu den menschlichen Ansiedelungen herabweht.
Geradezu verwüstend wirkt die Welt des ewigen Eises nur ausnahmsweise, wenn sich unter besonderen Verhältnissen Eisseen bilden, die dann, wie es im Ötzthale und im Martellthale schon geschah, plötzlich ihre Umdämmung durchbrechen und die tiefer liegenden Thalgründe verheeren. Viel gefährlicher sind die nicht perennierenden Schneemassen, die sich an steileren Gehängen lagern und, wenn sie von wärmeren Luftströmungen zerweicht werden, von ihrer Unterlage gleiten, um als Lawinen mit unwiderstehlicher, zermalmender Wucht niederzugehen. Diesen Schrecken kennt jedes Hochthal in Tirol; an allen Gebirgspfaden sieht man die hölzernen Gedenktäfelchen, die vom Tode eines Menschen in der eisigen zerdrückenden Umarmung einer Lawine reden.
Für die Thäler sind die in flimmernder Höhe über ihnen lagernden Firn- und Eismassen beständige Behälter ergiebiger Wassermassen. Da sammelt sich nicht bloß während des Winters, sondern auch während des Frühlings und Herbstes das krystallisierte Wasser in riesigen dicken Lagern an, um dann als Schmelzwasser niederzugehen. Man muß an einem Sommertage zur[S. 29] Mittagszeit über einen großen Gletscher gewandert sein, um zu sehen, wie da meilenlange Eisfelder auf einmal in Bewegung geraten, wie ihre Oberfläche zu tausend und abertausend Rinnsalen wird, in denen das geschmolzene Eis thalabwärts rieselt und gurgelt und rauscht, um am unteren Ende des Gletschers jene mächtigen Bäche zu speisen, die da mit wütender Kraft unter dem Eise hervorbrechen. Und je heißer der Sommer, um so reicher die Wassermenge, die er liefert. Aber nicht bloß in der wärmeren Jahreszeit schmelzen die Gletscher ab. Mitten im Winter kommen Tage, wo plötzlich eine warme Luftströmung die Eiswelt der Höhen zum Tauen bringt. Diese Föhnwinde kennt man in Tirol, wie man sie in der Schweiz kennt. Aber während man ihre Wärme früher dadurch erklärte, daß man meinte, sie kämen aus der Sahara über das Mittelländische Meer geflogen, kennt man sie jetzt als Fallströmungen, die durch ihren Sturz aus der Höhe zu ihrem Wärmegrad kommen. An solchen Wintertagen fangen die sonst zu Krystall gefrorenen Bäche plötzlich zu sprudeln und zu schäumen an, jeder Berg wird zum riesigen Dache, von dem Tausende von Wassern niederrieseln; die Firnfelder dampfen, und die stürzenden Lawinen lassen ihren Donner vernehmen.
Von den 29288 qkm Bodenfläche, welche Tirol enthält, sind: 1491 Äcker, 1964 Wiesen, 50 Gärten, 128 Weingärten, 1394 Hutweiden, 7778 Almen, 11049 Wald, 68 Seen, Sümpfe, 55 Haus- und Hofräume, 4764 unproduktive Wüstenflächen. Man ersieht daraus, daß die mit Pflanzen angebaute Fläche nur den siebzehnten Teil der Gesamtfläche beträgt; alles, was sonst dem Boden entsproßt, ist mehr oder weniger wild wachsendes Naturprodukt. Freilich wird dieses Wachstum der Natur noch geleitet und überwacht; aber Leitung und Überwachung wird um so lockerer und weniger eindringlich, je höher die Lage.
Auf den Äckern der Thalsohle wird zumeist Mais gebaut; an den Berghängen Roggen, Weizen, Gerste und Hafer. Der Getreidebau reicht bis zur Höhe von 1700 m hinan; doch erzeugt das Land nicht seinen vollen Bedarf an Brotgetreide. Neben dem Getreide wird auch Flachs gebaut; der[S. 30] Ötzthaler und Innthaler Flachs ist weitberühmt.
Südlich vom Brenner ist neben dem Mais der Weinstock die wichtigste Kulturpflanze. Er reicht vom Süden herein bis Brixen, zu einer Meereshöhe von 600 m; im Vintschgau bis über 700 m. Der Wein wird in Tirol nicht an Stöcken gezogen, sondern in „Berglen“. Das sind Laubengänge von 2 m Höhe, aus Holzsäulen bestehend, auf welchen Träger, „Staleinen“ ruhen. Doch finden sich Weinpfähle im Pusterthale und bei Brixen, während in Welschtirol die Reben sich an und zwischen den Maulbeerbäumen emporranken müssen. Diese Art des Anbaues wie die in Laubengängen ist landschaftlich weit reizvoller, als die an Pfählen; die letztere aber ermöglicht eine viel sorgfältigere Kultur. Die berühmtesten Tiroler Weine sind die von Terlan, Kaltern und Tramin; auch der Isera und Vino Santo von Arco.
Neben der Weinrebe sind’s edle Obstbäume, die der Landschaft Südtirols einen stellenweise paradiesischen Zug verleihen. Vom herrlichen Bozener Boden hinüber nach Meran und etschabwärts bis nach Arco gedeihen vorzügliche Äpfel, Pfirsiche, Aprikosen, Mispeln, Quitten; in den südlicheren Lagen auch Feigen, Mandeln und Granatäpfel. Und wenn in Deutschland noch überall der Schnee die Erde deckt, dann blüht und duftet es hier in jedem Thalwinkel, und Blüten regnen durch kosende Luft, während aus der Höhe noch tief beschneit die Felsenhäupter der Thalumwallung starren. Der schönste unter den fruchttragenden Bäumen Tirols aber ist die Edelkastanie. Sie hat das gleiche Verbreitungsgebiet, wie der Weinstock, wächst in ganzen Wäldern und bildet mit ihrem reichen dunkelgrünen Laube einen prachtvollen Schmuck der Landschaft. Auch die Nußbäume, die etwas höher gegen das Gebirge hinansteigen und auch in Nordtirol sich finden, wachsen zu mächtigen Baumgebilden heran. Nur im südlichsten Teile Tirols, im unteren Sarcathale und an den Ufern des Gardasees gedeiht der Ölbaum, der mit seinem blassen graugrünen Blätterwerk und seinem unvergleichlich stilvollen Geäst der Landschaft einen hellenischen Zug verleiht. Weniger können die unschönen Maulbeerbäume gelobt werden, die für[S. 31] Welschtirol charakteristisch sind. Aber weil sie die notwendige Bedingung der Südtiroler Seidenzucht sind, verzeiht man ihren Mangel an Baumschönheit. In ihrer landschaftlichen Wirkung sind die deutschen Nutzpflanzen den welschen entschieden überlegen. Auch die Mais- und Tabakfelder des Etschlandes reichen nicht an die Schönheit eines sommerlichen Roggenfeldes.
In Südtirol ist die Stufenreihe der charakteristischen Pflanzen von den Thaltiefen nach den Höhen zu eine etwas andere, als im Norden. Dort sind für die unteren Lagen bis zu 700–800 m Seehöhe bezeichnend die Pappel, Felder von Reis und Mais, Tabak, Maulbeerbäume, Reben, Nußbäume und Kastanien. Von 700–1600 m Getreidearten und Obstbäume; höher hinauf Wiesen und Buchenwald; dann beginnt erst der Fichtenwald und die Alpenweide.
So stark sind die Gegensätze zwischen den nördlichen und südlichen Abdachungen, daß man an der Nordseite eines Joches, wie etwa am Pfitscher Joche, stundenlang durch völlig pflanzenleeres Gestein emporsteigt und, kaum auf die Südseite getreten, schon einen weichen Rasenteppich unter sich hat. Auch auf dem Kalser und Velber Tauern, auf dem Venter Hochjoch kann man die gleiche Beobachtung machen. Da kommt man mit einem Schritt aus dem Norden nach Süden.
Die auffallenden Unterschiede in der Pflanzenwelt des Landes hängen teils von den großen klimatischen Unterschieden, teils auch von denen der Bewässerung und der geognostischen Bodenverhältnisse ab. Die heutige Pflanzenwelt Tirols ist, mit dem Rückgange der Gletscher zur schwindenden Eiszeit, allmählich von Norden und von Süden her ins Land gewandert, soweit nach der Centralkette und nach den höheren Berglagen zu, als es die Natur der einzelnen Pflanzen gestattete. Aber längst ehe der Brenner und die Malser Heide vom ewigen Eise befreit waren, trugen schon Stürme die Keime südlicher Pflanzen über die Centralkette nach Norden und umgekehrt.
Bei den großen Höhenunterschieden ist es erklärlich, daß das Bild der Pflanzenbekleidung des Landes ein so mannigfaches ist. Während einzelne Charakterpflanzen,[S. 32] wie die Weinrebe, der Ölbaum, die Edelkastanie, die Cypresse, die Kakteen, nur in den Thälern Südtirols gedeihen, finden sich die deutschen Waldbäume sowohl in Süd- wie in Nordtirol. Die Pflanzenbekleidung der Erdrinde steigt in Tirol sogar höher hinan, als in der Schweiz; der Getreidebau reicht bis 1700 m über dem Meere. Unter den Waldbäumen liebt die Erle am meisten die tieferen Lagen. Sie findet sich in ausgedehnten Beständen auf den Thalsohlen, in den durch Überschwemmungen der Bergströme gebildeten übersandeten Auen. Solche Erlenauen, unerfreuliche Landschaftsbilder, zeigen große Strecken des Unterinnthals; sie finden sich auch im Zillerthal, am Ausgange des Ötzthals, in Ridnaun, Pfitsch und anderwärts.
Die Eiche liebt den Boden Nordtirols nicht. In Südtirol dagegen findet man sie häufig, aber nur in zwerghafter Form, als Gestrüppwald an den Bergen emporkletternd. Höher hinauf wagt sich die Buche, in Nordtirol bis zu 1300, im Süden bis zu 1800 m Seehöhe, oft ganze Waldungen bildend.
Einer der edelsten Waldbäume, der Ahorn, gereicht hauptsächlich den Thälern der nördlichen Kalkalpen zur Zierde, wo er sowohl vereinzelt als in kleinen offenen Hainen erscheint; in unvergleichlicher Schönheit auf dem „Ahornboden“ im Karwendelgebirge.
Der Massenbaum des Tiroler Waldes ist nördlich von der Centralkette durchgängig die Fichte; südlich bleibt sie die herrschende Baumgattung, neben der Buche, wenigstens in den höheren Lagen. Ganze Strecken sind aber auch mit der hellgrünen Lärche bestanden. Die eigenartigsten Erscheinungen des Tiroler Bergwaldes sind die Zirbelkiefern. Sie steigen höher in die Felswüsten hinan, als die Fichte, noch über 2000 m, wachsen langsamer, aber mit wertvollem, köstlich duftendem Holze von feuriger Lachsfarbe. Es sind knorrige, seltsam geästete düstere Erscheinungen, durch deren buschiges Nadelkleid der Bergwind rauscht. So sehr auch die Äxte der Holzschläger unter den Tiroler Zirbelbeständen gewütet haben, gibt es doch noch eine Unzahl von prächtigen vereinzelten Stämmen, die sich an der[S. 33] oberen Grenze des Baumwuchses, in unzugänglichen Felswüsten, eines gesicherten Daseins freuen. Noch höher als die Zirbelkiefer steigt die Krummholzkiefer oder Legföhre hinan, jenes dunkle, krause, an den Bergwänden hinkriechende strauchartige Gewächs, das so zäh und überaus genügsam die Klippen und Schutthalden überzieht, noch in Höhen von mehr als 2600 m, abwechselnd mit einem aus Alpenrosensträuchern, Zwergbirken, Wacholder bestehenden niedrigen Gestrüppwalde, und mit den ausgedehnten Alpenmatten, die sich in diesen Höhen finden.
Je höher man emporsteigt, um so gedrängter, kleiner werden die Pflanzen. Aber auf ihren kurzen Stengeln wiegen sich Blumen von großer Farbenpracht. Bis zu Höhen von 3000 m reicht die Pflanzenwelt der Phanerogamen hinan, zuletzt freilich nur in den geschütztesten Lagen, wo auf dem steinigen Boden, soweit ihn die Sonne für ein paar Monate vom Schnee befreit, noch Edelweiß und Edelraute, die Eisgentiane, die Primel, die Eisnelke und andere prächtige Hochgebirgsblümchen um ihr Dasein kämpfen. Über 3000 m sind’s nur Flechten mehr, die mit ihrer überaus zähen Lebenskraft an die verwitternden Felsen der Gipfel sich anheften.
Der Bergwald ist in vielen Thälern Tirols arg mißhandelt. Mancherlei Arten der Nutzung sind es, die ihm schweren Schaden bringen: die Kahlschläge, die Ziegen- und Schafweide und die Waldstreugewinnung. Und bei der letzteren insbesondere die verderbliche „Schneitelwirtschaft“. Bei dieser Wirtschaft werden die Tannen- und Fichtenbestände unter Zuhilfenahme von Steigeisen und Axt ihrer Äste beraubt, bis gegen den Gipfel hinauf. Solch’ ein geschundener Wald gewährt dann einen trostlosen Anblick: ein Feld von traurigen dürren Stangen, deren jede am Gipfel noch ein armseliges Büschelchen Grün zeigt, während ihr an den unteren Teilen nur hier und da kümmerliche Ästchen entwachsen. Solche Waldungen kann man in vielen Seitenthälern des Unterinnthales sehen: im Brixenthal und Zillerthal, um Brandenberg; aber auch im Pusterthale (Abb. 16). Am stärksten ist diese Waldschinderei dort, wo sie als Nutzung[S. 34] im Gemeindewalde oder auf Grund von Einforstungsrechten im Staatswalde ausgeübt wird. Glücklicherweise hat sie doch gewisse Grenzen; denn aus allzu großer Entfernung von den Gehöften will der Bauer seine Streu nicht holen. Und manche Thäler haben sich überhaupt diese Art von Wirtschaft nicht angewöhnt.
Während so die den landwirtschaftlichen Ansiedelungen benachbarten Wälder oft einer verderblichen Nutzungsweise, die zugleich das Landschaftsbild arg beeinträchtigt, ausgesetzt sind, wird der oberste Waldgürtel in seinem Bestande durch die Viehweide gefährdet. Der junge Nachwuchs wird vom Vieh mit Hufen zertreten und angenagt, so daß es ihm schwer wird, emporzukommen. Da findet man an den höheren Berghängen nur mehr einzelne alte Bäume als Waldreste; der Nachwuchs fehlt. Streckenweise hat die Ziegenweide ehemalige Waldhänge geradezu in Steinwüsten verwandelt. In Südtirol aber haben die Holzhändler ganze Landschaften entwaldet. Nur wo die menschlichen Ansiedelungen fern sind und wo zugleich die Beschwerlichkeit des Transportes den Holzhandel nicht mehr als gewinnbringend erscheinen läßt: da erscheint der Bergwald noch in seiner ganzen urwüchsigen Pracht und Kraft. So in einzelnen der hinteren Gründe des Zillerthales, vielfach auch im Oberinnthal und dessen Seitenthälern. Und welch’ wunderbare Kontraste zeigt der Tiroler Wald, von den sonnendurchleuchteten Ahornhainen des oberen Isargebietes bis hinauf zu den gespenstig finsteren Zirbelkiefern der Alpe Grawand im Zemmgrunde und wieder hinab zu den tiefschattigen Kastanienforsten des Valsugana und dem süß-melancholischen Olivenwäldchen von Torbole!
Über der oberen Grenze der Waldungen erstrecken sich die mit Rasen und Kräutern überwachsenen „Almen“ noch stundenweit empor. Der Bergbewohner gebraucht den Ausdruck Alpe oder Alm nie von dem ganzen Gebirge, sondern immer nur von den Weidelandschaften in den höheren Berglagen. Man darf nicht glauben, daß ein gleichmäßig breiter Gürtel von Wäldern und über ihm von Almen die Berge umgebe. Diese Gürtel sind in den einzelnen[S. 35] Landschaften von sehr ungleicher Ausdehnung. In manchen Gegenden stoßen die Wälder mit ihren oberen Ausläufern unmittelbar an die pflanzenleeren Steinwüsten, an denen höher droben noch, wie hingeklebt, kleine steile Grasflächen hangen. Anderwärts fehlt die Zone der Wälder ganz; dort ist sie ausgerodet, und das Ackerland der Thalsohle und der untersten Berghänge geht in Weideland über. Da sind dann Bergrücken, auf denen man vier bis fünf Stunden lang immerfort über Rasen emporsteigen kann, wie im Kitzbühler Thonschiefergebirge oder in der nördlichen Vorlage des Tuxer Kammes. Häufig ist auch, daß über den zusammenhängenden Waldungen noch eine abwechselnd aus Felswänden, kahlen Schutthalden, dünner Waldung, Rasenflächen und Gestrüppstrecken bestehende Zone den Übergang zur pflanzenleeren Wildnis bildet.
Ungefähr der vierte Teil der ganzen Bodenfläche von Tirol besteht aus Alpenweiden. Je nach der Höhenlage, nach der Steilheit der Hänge und nach der Bodenart sind diese Alpenweiden entweder aus einer zusammenhängenden Schicht von Erdkruste gebildet; oder die pflanzentragende Schicht ist von Felsklippen durchsetzt oder von Geröll teilweise überschüttet, von kiesigen Wassergräben gefurcht. Gras und Kräuter, die auf diesen Alpenwiesen wachsen, sind zwar kurz, aber ungleich aromatischer und reicher an Nahrungsstoff als das auf der Thalsohle wachsende Gras. Als Viehfutter dienen die Gewächse dieser Matten teils, indem man es den Tieren selbst überläßt, sich ihre Nahrung zu suchen, teils, indem man einzelne Strecken, die „Mähder“, abmäht und das Heu zur Überwinterung der Tiere benützt. Das oft mit Lebensgefahr an den Hängen gemähte Heu wird entweder im Freien oder in zahllosen kleinen Heustadeln aufgespeichert, bis man sich die Zeit nehmen kann, es zu den Bauernhöfen herabzubringen. Das geschieht meist im Winter auf der Schlittenbahn; über steile Hänge kann das Heu auch als „Grasbären“ herabgerollt werden, nachdem man es in Bündel zusammengeschnürt hat. Die[S. 36] höchste Zone der Pflanzenwelt, jene spärlichen Kräuter und Gräser, die zwischen den riesigen Moränen der Gletscher und als kleine grüne Päckchen an steilen Felshängen noch unmittelbar neben ewigen Schneefeldern sprossen, werden nicht mehr gemäht; sie dienen den Schafen und Ziegen zur Nahrung.
Die Tierwelt all’ dieser Thäler ist heute größtenteils eine zahme: Rinder und Pferde auf der Thalsohle und den niederen Almen; höher droben Rinder und in den obersten Weidegebieten Schafe und Ziegen. Die Pferdezucht ist zumeist in den an das Salzburgische angrenzenden Gegenden vertreten; hier wächst ein tüchtiges, etwas schwerfälliges Arbeitspferd. Das Rindvieh zählt mancherlei Rassen; aber auch dem Laien muß ein Hauptunterschied auffallen: der Unterschied zwischen dem von Norden und Osten her in die Alpenthäler gekommenen Rinde, das die germanischen Einwanderer mitgebracht haben und das kurzgehörnte, braune oder scheckige Tiere zeigt, und den graugelben, einfarbigen, langhörnigen Rindern, die romanischer Einwanderung ihr Dasein verdanken und hauptsächlich im Westen und Süden heimisch sind. Unter dem zahmen Geflügel sind Hühner wegen des starken einheimischen Eierverbrauches bevorzugt, weniger Enten, Gänse und Tauben.
Die Haustiere, welche in Tirol zumeist auf Wanderungen angewiesen sind, zeichnen sich vor den beständig im Stalle lebenden durch mehr Feuer und Behendigkeit aus. Sie sind der größte wirtschaftliche Schatz des Volkes und fast das einzige, was zur Ausfuhr gebracht werden kann.
Die Jagd ist in Tirol nicht bedeutend. Sie war so lange frei gegeben, und die Tiroler waren stets so gute Schützen, daß das jagdbare Wild recht zusammengeschmolzen ist. Noch gibt es in den höchsten Steinwildnissen Gemsen und Murmeltiere, Adler, Geier, Stein- und Schneehühner; auch wandert wohl alle zehn Jahre einmal ein Bär aus den Wäldern Graubündens nach Tirol herein. Aber der eigene Waldgürtel Tirols ist arm an Jagdwild, mit Ausnahme[S. 37] jener Thäler, wo sorgfältig gehegt wird, wie etwa in einzelnen Seitenschluchten des Zillerthales oder im Karwendelgebirge. An der Nordgrenze, die sich an die wildreichen bayerischen Staatsforsten lehnt, blüht die Jagd noch am lustigsten; und die Tiroler Wildschützen streifen wohl nicht selten auf bayerischen Jagdgrund hinüber. Sie sind aber gutartiger als die vom Nachbarlande; jene todbringenden Zweikämpfe zwischen Wilderern und Jägern, die in Bayern an der Tagesordnung sind, kommen in Tirol nicht vor. Jene ausgedehnten, mancherorts äußerst selten betretenen Steingefilde, welche zwischen der Grasregion und der ewigen Schneeregion liegen, sind die Heimat zahlreicher Schnee- und Steinhühner, die auf den Tiroler Tischen sehr häufig zu finden sind. Auch die Schneelerche läßt in den Gletscherhöhen noch einsam ihre zarten Triller erschallen; in den Trümmern der alten Burgen und in den Klüften der tieferen Thäler nisten zahlreiche Uhus, in Tirol Buhin genannt. Um die höchsten Felstürme und Eisgrate tummelt sich noch in kleinen Schwärmen die Alpenkrähe, deren goldgelbe Füßchen oft im Schnee ihre Spuren lassen; aber die stolzesten Bewohner der wilden Höhe sind der Steinadler und der Lämmergeier oder Gemsgeier. Die Gewässer Tirols sind nicht sehr fischreich; doch finden sich häufig in den kleinen Hochseen und in den weniger wilden Abschnitten der Thalbäche die edelsten Süßwasserfische: der Saibling und die Steinforelle, die auch mit zu den regelmäßigen Leckerbissen der Tiroler Tafel gehören. Die Mannigfaltigkeit[S. 38] der Insekten ist bei der großen Verschiedenheit der Pflanzenwelt erklärlich, namentlich in Südtirol, wo auch Spinnentiere vorkommen, die in Deutschland völlig fremd sind, wie der Skorpion. Weit verbreitet ist in den sonnseitigen Einzelgehöften die Bienenzucht.
Während in Deutschtirol der kleine Singvogel unbehelligt seine Lieder zwitschert, sieht man in den südlicheren Teilen Welschtirols überall die verabscheuungswürdigen Anstalten zum Fang der armen Vögel. Dieser grausame und herzlose Sport vergällt dem Deutschen jeden Spaziergang an den herrlichen Ufern des Gardasees.
Die Geschichtsforschung hat über die Urbewohner Tirols widerstreitende Ansichten[S. 39] aufgestellt, die aber doch darin übereinstimmen, daß vor der jetzigen Bevölkerung ganz Tirol vom Stamme der Rhätier oder Rhasener, der den Etruskern verwandt war, besiedelt gewesen sei.
Frühzeitig schon hatten die Römer den eroberungslustigen Blick auf Südtirol gerichtet; aber erst im Jahre 36 v. Chr. konnte der Konsul Munatius Plancus das Trentino erobern, und im Jahre 12 v. Chr. drangen Drusus und Tiberius mit ihren Legionen bis in das Innthal vor. Die Kolonisation begann; Tridentum, Pons Drusi (Bozen), Sabiona (Säben), Vipitenum (Sterzing), Matrejum (Matrei) und Veldidena (Innsbruck) wurden Festungen und Pflanzstädte, durch Heerstraßen mit Italien und, über Scharnitz und Partenkirchen, auch mit Augusta Vindelicorum (Augsburg) verbunden. Von Sterzing führte auch eine wichtige Heerstraße über Loncium (Lienz) nach Aquileja; eine andere von Veldidena durch das Innthal herab nach den Kolonialstädten Bojodurum (Passau) und Laureacum (Lorch). Schon frühzeitig läßt die Legende Südtirol christlich werden; nachweisbar aber ist das Eindringen des Christentumes erst gegen das Ende der Römerherrschaft, im IV. und V. Jahrhundert.
Den Sturm der Völkerwanderung konnten die Bergwälle des Landes nicht aufhalten. Wie schon frühzeitig, wenn auch nur vorübergehend, die Cimbern durch Tirol bis nach Italien vorgedrungen waren, so fielen im III. Jahrhundert, von Nordwesten her, die Alemannen in das Land. Nach dem Sturze der Römerherrschaft wurde Rhätien eine Provinz des Gotenreiches unter König Theoderich; aus seiner Zeit rühren noch zum Teile die alten Mauerwerke von Trient her. Nach dem Untergange der glanzvollen, aber kurzen Gotenherrschaft verklingt auch der Name Rhätien; das Land wird die Beute zweier Germanenstämme: der Longobarden, die von Süden her das jetzige Welschtirol in Besitz nahmen,[S. 40] und der Bajuwarier, die von Norden aus das jetzige Deutschtirol, bis in die Gegend von Bozen, zu ihrem Eigentume machten. Die Longobarden gaben rasch ihre germanische Stammeseigentümlichkeit auf; sie wurden verwelscht; die Bajuwarier aber verbreiteten deutsche Mundart und Sitte im größten Teil des Landes, nur im Westen mit den stammesverwandten Alemannen rivalisierend. Das währte während der Herrschaft der Agilolfinger in Bayern. In dieser Zeit gelang es dem kriegerischen Herzog Tassilo II. nicht nur, die am Anfange des VII. Jahrhunderts an der Drau bis in das Pusterthal vorgedrungenen Südslaven zurückzuwerfen, sondern noch das benachbarte Kärntnerland seinem bayerischen Herzogtume einzufügen.
Karls des Großen Staats- und Kriegskunst zertrümmerte das Reich der Longobarden und jenes der Bayernherzoge. Tirol zerfiel zunächst in eine Anzahl von Grafschaften, die von Grafen verwaltet wurden. Sie gehörten zum Herzogtume Bayern, das aber zunächst nicht mehr von einer eigenen Dynastie, sondern von den Karolingern regiert ward. In Trient dagegen ward im Jahre 1027 der dortige Bischof politischer Herrscher und deutscher Reichsfürst; seine Stellung als solcher wurde durch Kaiser Barbarossa gefestigt und gesichert.
Unter den schwächeren Nachfolgern Karls des Großen gelang es indessen in Tirol dem dortigen Adel, sich rasch eine größere politische Gewalt und Selbständigkeit zu verschaffen. Namentlich waren es die mächtigen Geschlechter der Grafen von Tirol, von Eppan und von Andechs, die nach und nach den größten Teil des Landes unter ihre Herrschaft brachten.
Für die Deutschen Kaiser mußte Tirol, als kürzester und bequemster Durchgang nach Italien, wertvoll sein. Ihnen mußte daran gelegen sein, die Alpenthäler in ganz zuverlässige Hände zu bringen. Die sächsischen und fränkischen Kaiser suchten[S. 41] sich als politische Stützen namentlich die Bischöfe. So Konrad II. den Bischof von Trient, dem er die Grafschaften Trient, Bozen und Vintschgau verlieh; Heinrich IV. den Bischof von Brixen, dessen Besitzungen, mit denen ihn der Kaiser belehnte, von Klausen über den Brenner bis ins Unterinnthal und durch das Pusterthal bis zur Freisingschen Herrschaft Innichen reichten.
Die Tiroler Bischöfe aber behielten[S. 42] diese Gebiete nicht lang in eigener Verwaltung, sondern belehnten mit denselben weltliche Große. So in Südtirol ein mächtiges, dem Welfenhause verwandtes Geschlecht, das seit 1116 unter dem Namen der Grafen von Eppan auftrat und bald eine Stellung errang, die weit über die von bischöflichen Beamten hinausging. Größere Bedeutung noch gewannen die Grafen von Tirol. Sie stammen vermutlich von Adalbert, einem ehemaligen Dienstmann des Hochstiftes Brixen, der mit ausgedehnten bischöflichen Ländereien belehnt ward und dessen Söhne Albert und Berthold seit 1140 sich Grafen von Tirol nannten. Albert von Tirol war’s, der im Jahre 1158 den Feldzug des Kaisers nach der Lombardei mitmachte und, ungepanzert, nur mit Schild und Speer bewehrt, im Zweikampf einen mailändischen Ritter niederwarf.
Die Grafen von Andechs, vordem von Dießen und Wolfratshausen benannt, ein mächtiges bayerisches Rittergeschlecht, erhielten 1165 vom Bischofe von Brixen ausgedehnte Grafschaften im Pusterthal und Unterinnthal zum Lehen. Die Besitzungen der Andechser reichten bald aus Franken und von Passau[S. 43] bis nach Istrien und Krain, sieben reiche Grafschaften. So waren bis zum XIII. Jahrhundert die meisten Tiroler Grafschaften in den Händen der Grafen von Tirol und der Grafen von Andechs vereint. Und als der Mannesstamm der Andechser im Jahre 1248 ausstarb, gelang es dem thatkräftigen Grafen Albert von Tirol, teils mit geharnischter Faust, teils durch diplomatische Schachzüge, so ziemlich den größten Teil des heutigen Landes Tirol seiner Herrschaft zu unterwerfen. Alberts Schwiegersöhne, die Grafen von Hirschberg und von Görz, teilten nach seinem Tode das Land; aber dem Sohne des letzteren, Meinhard II. von Görz, gelang es, das Ganze wieder in seiner Hand zu vereinen. Dieser einsichtsvolle und thatkräftige Herrscher, der auch im Jahre 1286 mit dem Herzogtum Kärnten belehnt ward, wurde der erste Landesfürst in Tirol. Seine Enkelin, Margareta, die Maultasche zubenannt, wurde für die Geschichte Tirols entscheidend, indem sie nach mannigfachen Schicksalen, kinderlos, Land und Herrschaft an ihren österreichischen Vetter, Herzog Rudolph IV., abtrat (im Jahre 1363).
So war Tirol an das Haus Habsburg gekommen. Rudolfs IV. Erbe ward sein Bruder Leopold und, als derselbe in der Schlacht bei Sempach 1386 gefallen war, dessen jüngster Sohn, Herzog Friedrich mit der leeren Tasche: eine der lichtesten und edelsten Erscheinungen seiner Zeit. Schon am Anfange seiner Herrschaft ein entschiedener Freund von Bürger und Bauer gegenüber dem Adel, ward er von schweren Schicksalen heimgesucht, als er wegen seines Verhaltens auf dem Konzil zu Konstanz in die Reichsacht fiel und eingekerkert ward, aus dem Kerker entfloh, auf den Rofner Höfen im Ötzthal Zuflucht fand, bis er, der Treue seines Volkes sicher, in Landeck seine Verkleidung von sich werfen und unter seine Tiroler treten konnte, die ihn jauchzend empfingen. Als endlich Reichsacht und Kirchenbann von ihm genommen waren, schuf er durch den Erlaß der landständischen Verfassung Tirols, den Fürsten des Mittelalters um Jahrhunderte voraus, seinem Volk einen freien Bauern- und Bürgerstand. Die ganze heldenhafte Treue, die[S. 44] das Volk der Tiroler späterhin seinen Herrschern erwies, ist wohl zum größten Teile herausgewachsen aus dem Verhältnis, das unter Herzog Friedrich zwischen Fürst und Volk entstand.
Friedrichs kinderloser Sohn Sigismund trat die Herrschaft über Tirol an seinen Vetter, den nachmaligen Kaiser Maximilian I., ab. Dieser liebte das Land, verbesserte dessen Verwaltung und Wehrverfassung und vergrößerte es durch Hinzufügung des Pusterthales aus der Erbschaft der Grafen von Görz; ferner durch die Herrschaften von Kufstein, Rattenberg und Kitzbühel, die ihm von den bayerischen Herzogen abgetreten wurden; ein siegreich gegen die Venetianer 1508–1513 geführter Krieg vermehrte das Land um südtirolischen Besitz: insbesondere Riva, Rovereto, Peutelstein und Ampezzo.
Maximilians Enkel, Kaiser Karl V., brachte dem Lande weniger Segen. Er überließ die Regierung von Tirol und den österreichischen Erbländern seinem Bruder Ferdinand I. Als während des Schmalkaldischen Krieges Karl in Innsbruck weilte und seine Gegner über die Ehrenberger Klause in Tirol eingefallen waren, war der Kaiser genötigt, durchs Pusterthal nach Kärnten zu entfliehen. Unter Ferdinands Herrschaft hatte auch die Reformationsbewegung angefangen, in Tirol ihre Wellen zu schlagen; Kirchen- und socialpolitische Bewegungen wurden aber im Keim erstickt. Ferdinands Nachfolger ward dessen Sohn, Ferdinand II., seit 1563. Er unterdrückte die Reste der reformatorischen Bewegung, ließ die Jesuiten in Tirol ein und gestaltete die Verfassung des Landes um. Mit seiner durch ihre Schönheit berühmten Gemahlin, Philippine Welser (Abb. 19), einer Augsburger Patricierstochter, die er zuerst in heimlicher Ehe geheiratet hatte, residierte er zumeist auf Schloß Ambras bei Innsbruck.
Unter den späteren Herrschern Tirols aus dem Hause Österreich gerät die Geschichte des Landes in ruhigen Fluß; Zwistigkeiten der Landesherren mit den Bischöfen, mit den unruhigen Italienern im Süden und den Graubündnern im Westen hören auf. Seit 1665 hat Tirol keine eigenen Landesherren mehr, sondern ist Bestandteil der österreichischen Länder.
Erst im Jahre 1703, während des spanischen Erbfolgekrieges, tritt Tirol wieder in den Rahmen der Weltereignisse. Der zum Kampfe gegen Österreich mit den Franzosen verbündete bayerische Kurfürst Max Emanuel war über Kufstein und über Ehrenberg in Tirol eingefallen und hatte sich Innsbrucks bemächtigt, während Marschall Vendome aus Südtirol vordringen sollte. Da erhob sich wie ein Löwe der Tiroler Landsturm, warf die Bayern auf dem Brenner und im Innthal aus ihren Stellungen, vernichtete an der Pontlatzer Brücke eine bayerische Abteilung in mörderischem Kampfe und zwang den Kurfürsten zum Rückzug. Auch Vendome, der vergeblich Trient belagerte, mußte sich zurückziehen.
Tiefe Ruhe kehrte wieder in Tirol ein, das sich in der Folgezeit den Reformversuchen Kaiser Josephs II. völlig abgeneigt erwies.
Den ganzen Heldenmut und die unvergleichliche Treue der Tiroler aber sehen[S. 46] wir wieder während der Napoleonischen Kriege erwachen. Das geschah schon im Jahre 1797, als in der Schlacht von Spinges der Tiroler Landsturm ein französisches Heer unter General Joubert in die Flucht geschlagen hatte. Aber das Größere sollte erst zwölf Jahre später kommen.
Im Jahre 1805 war Tirol durch den für Oesterreich so unglücklichen Preßburger Frieden an Bayern abgetreten worden; bayerische Behörden hatten die Verwaltung übernommen. Mancherlei Maßregeln der bayerischen Regierung standen im Widerspruch mit den alten Gewohnheiten des Volkes, dessen religiöser Eifer auch durch seine Geistlichen gegen die aufgedrungene Herrschaft entflammt ward. So konnten, als im Jahre 1809 der Krieg zwischen[S. 48] Österreich und Napoleon wieder ausbrach, in Tirol sofort die Flammen des Aufstandes hoch emporschlagen. Andreas Hofer, der Sandwirt von Passeier (Abb. 17 u. 18), ward zum begeisterten Führer der Tiroler Landesverteidiger, Joseph Speckbacher, ein Bauer aus Rinn im Unterinnthal, zum geistigen Leiter der kriegerischen Thaten, dessen Adlerblick und verwegener Mut die schwersten Situationen beherrschte. Der Kapuziner Haspinger half mit entflammender Rede. Im Pusterthal entbrannte der Aufstand zuerst; dort ward schon im April eine kleine bayerische Abteilung zurückgedrängt nach Sterzing, wo sie von Hofer gefangen ward. Am 12. April ward die Besatzung von Innsbruck durch Speckbacher überwältigt; die Hauptmacht der Bayern und Franzosen, die sich, 4600 Mann stark, über den Brenner gegen Innsbruck zurückgezogen hatte, mußte bei Wilten kapitulieren.
So war Tirol wiederum frei. Aber nur für kurze Zeit. Schon im Mai brach der bayerische General Wrede wiederum in Tirol ein, erkämpfte sich den tapfer verteidigten Paß Strub an der Salzburg-Tiroler Grenze, schlug die Tiroler bei Wörgl und bemächtigte sich Innsbrucks. Indessen hatte sich am Berge Isel der Tiroler Landsturm versammelt; wiederum kam es hier zur Schlacht, und abermals wurden die Bayern geschlagen und zum Rückzug aus Tirol gezwungen. Nur Kufstein, aufs tapferste verteidigt, blieb in ihren Händen. In Südtirol hatte eine österreichische Heeresabteilung die Franzosen vertrieben.
Aber nur kurze Zeit währte dies. Österreich hatte nach der unglücklichen Schlacht bei Wagram seine Truppen aus Tirol zurückgezogen und die Tiroler zur Ruhe aufgefordert, Napoleon den Marschall Lefebvre mit einem 50000 Mann starken bayerisch-sächsisch-französischen Heer nach Tirol geschickt. Nordtirol war entwaffnet. Aber in Südtirol rief Andreas Hofer zum drittenmal den Landsturm auf, der die Truppen des Marschalls in wiederholten Gefechten, insbesondere in einer blutigen Schlacht an der Pontlatzer Brücke, wiederum zurückdrängte nach Innsbruck. Das war in den ersten Tagen des August. Am 13. August ward die dritte und größte Schlacht am Berge Isel geschlagen; die Tiroler blieben siegreich; der Marschall verließ mit seinem Heere das Land. Der[S. 50] Sandwirt von Passeier aber saß in der Hofburg zu Innsbruck und regierte das Land als Oberkommandant.
Erst im Oktober rückte wieder eine bayerische Armee in Tirol ein und erfocht einen Sieg gegen Speckbacher bei Melleck. Aller Heldenmut des Landsturms war umsonst. Am 14. Oktober schloß Kaiser Franz mit Napoleon den Wiener Frieden; Tirol ward abermals an Bayern abgetreten. Nun verließ auch den Sandwirt die Widerstandskraft; er ließ am Berge Isel den Landsturm auseinander gehen, da die Franzosen mittlerweile auch durchs Pusterthal eingerückt waren, und nahm die von Eugen Beauharnais den Tirolern gebotene Amnestie an, während Speckbacher nach Österreich entfloh. Falsche Nachrichten von österreichischen Siegen und vom Einmarsch eines österreichischen Heeres aber täuschten den tapferen Hofer, der vom Passeierthale zum letztenmal seinen treuen Landsturm aufbot. Ein paar Häuflein fanden sich noch zusammen und errangen einige Erfolge gegen kleine französische Abteilungen im Süden. Aber die Kraft des Tiroler Volkes war doch zu sehr erschöpft; neue französische Truppen rückten ins Land; Hofer mußte die Waffen niederlegen und ins Gebirge fliehen. Verrat lieferte ihn in die Hände der Franzosen; und am 20. Februar 1810 ward er zu Mantua erschossen. Tirol blieb bayerisch.
In schweigendem Grimm erduldeten die Tiroler ihr Schicksal, bis im Jahre 1814 ihr Land nach dem Sturze Napoleons von Bayern an Österreich zurückgegeben ward. Das Volk von Tirol hatte während seines Befreiungskampfes viel Kraft verausgabt, vielleicht mehr, als es ohne Schaden für seine Zukunft ausgeben konnte. So war’s nicht zu verwundern, daß die mächtigen Fortschritte des XIX. Jahrhunderts in den einsamen Bergthälern nur langsam eindrangen, daß nach dem großen Kriege mancherlei schwer begreifliches Sektenwesen in den Köpfen der Unterinnthaler und Zillerthaler seinen Spuk zu treiben begann, daß die schlichten Bauern sich oft zu widerstandslos der Führung durch die Bureaukratie und die Geistlichkeit, und den eigenen althergebrachten Vorurteilen überließen. Und[S. 51] was am meisten in der jüngsten Geschichte Tirols zu beklagen ist: daß das deutsch-tirolische Volk nicht die Kraft besitzt, der fortwährenden Italianisierung Südtirols genügenden Widerstand entgegenzusetzen.
Die Bevölkerung Tirols besteht zum größten Teile aus den deutsch redenden Nachkommen des bayerischen Volksstammes, der sich während der Völkerwanderung Tirols bemächtigt hatte. Im Oberinnthal aber und in Vorarlberg ist die dortige durchaus deutsche Bevölkerung aus dem Stamme der Schwaben und Alemannen.
Unter dieser heutigen Schicht des Tiroler Volkstums erkennt man teils aus einzelnen Dialektformen und Ausdrücken, teils aus Orts- und Bergnamen Reste der früheren Volksunterlage: der Rhätier und der römischen Kolonisation, in einem kleinen östlichen Landstrich auch der vordem eingedrungenen Südslaven. So ist die Tiroler deutsche Mundart keine einheitliche. Sie fließt an der Nordgrenze vollständig mit der bayerischen, an der Ostgrenze mit der Salzburger und Kärntner Mundart zusammen, während sie in Vorarlberg an die der Ostschweiz anklingt. Vom nächstverwandten bayerischen Dialekt unterscheidet sich der Tiroler durch die tiefen, ihm eigenen Kehllaute. Von den Vokalen klingt das A häufig wie O, das E und I wie Ö und Ü; die Konsonanten rollen dem Tiroler wie aus tiefen Bergschlünden hervor.
Neben der deutsch redenden Bevölkerung gibt es in Tirol auch eine romanische und italienische. Die romanische (altromanische, ladinische) ist wohl auf römische Niederlassungen mit beigemischten rhätischen Elementen zurückzuführen; sie wohnt in den Thälern Gröden und Enneberg, im Thal des Avisio und des Cordevole. Ihre Sprache ist ein fast zur Unkenntlichkeit verwildertes Latein. Von der Gesamtbevölkerung haben 60 Prozent die deutsche, 40 Prozent die italienische oder ladinische Umgangssprache. Übrigens verstehen und sprechen in den ladinischen Thälern die Männer alle auch deutsch.
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Im allgemeinen kann man den Satz gelten lassen, daß in Tirol die Sprachgrenze auch eine Grenze verschiedener Lebensformen und socialer Zustände bedeutet. Aber im einzelnen erleidet dieser Satz viele Ausnahmen. Insbesondere bilden die Ladiner in mancher Hinsicht Übergänge. Sprachlich sind sie den Deutschtirolern ebenso fremd, wie die Italiener; an Bauart, Ansiedelungs- und Wirtschaftsweise, äußerer Erscheinung, Nahrung und Kleidung haben sie mehr Ähnlichkeit mit den Deutschtirolern. Die Bau- und Ansiedelungsweise der Deutschtiroler reicht weiter nach Süden, als ihre Sprache.
Gemeinsam haben die deutschen und welschen Thäler, daß im allgemeinen Wohlstand und Annehmlichkeit des Daseins am bedeutendsten in den untersten Gegenden der Thäler sind und von da nach aufwärts stufenweise abnehmen, so daß die höchstgelegenen Ansiedelungen die ärmsten und rückständigsten sind. Von dieser Thatsache, die zu naturgemäß ist, gibt es nur wenig Ausnahmen, wie etwa die Rofner Höfe im Ötzthal. Aber die Armut und Einfachheit der höchsten Ansiedelungen ist sehr ungleichartig; in manchen Thälern wirkt sie edel und würdig, in anderen abschreckend und bettelhaft.
Von den ehemaligen Rhätiern sind fast nur noch Ortsnamen übriggeblieben; diese aber reichen vom Zillerthal bis nach Trient und nach Vorarlberg. Im Unterinnthal grüßen uns als rhätisch schon Ortsnamen wie Schwaz, Terfens, Volders; sie finden sich sehr zahlreich im Oberinnthal, im Vintschgau, am Eisack. In den höher gelegenen Seitenthälern werden sie seltener; von den Bergnamen sind wohl nur die wenigsten rhätischen Ursprungs. Daraus schließt man mit Recht, daß die rhätische Ansiedelung sich so ziemlich auf die Hauptthäler beschränkt haben muß.
Auf die Rhätier folgte die Romanisierung des Landes. Und die Rhätoromanen scheinen viel weiter in die entlegeneren Thäler und nach den Höhen zu vorgedrungen zu sein. Die romanischen Ortsnamen sind sehr zahlreich; sie zählen nach Tausenden, sind ohne Schwierigkeit zu deuten und hängen mit dem landschaftlichen Charakter der Gegend zusammen. So wird jeder Lateiner Campiglio mit campus, Vals[S. 55] mit vallis, Vill mit villa, Pontigl mit ponticulum in Zusammenhang bringen.
Der rhäto-romanischen Zeit folgte endlich die bajuwarische Einwanderung, im Oberinnthal die der Alemannen. Die Germanisierung des Landes begann; aber nur langsam. Unter die romanischen Ortsnamen mischten sich immer mehr deutsche, wie Hall, Innsbruck, Landeck, Steinach u. a. Im Vintschgau hielt sich das Romanische zäher, als im Innthal; am zähesten in Enneberg und Gröden. Der slavische Zuzug von Osten her ward durch die Bajuwarier zurückgedrängt; an ihn erinnern nur einzelne Ortsnamen im Iselthale: vor allem Windisch-Matrei; auch das Frosnitz- und Teischnitzthal, der Mulwitz- und Laberwitz-Gletscher; wohl auch der Name des Pusterthales (früher pustrizza, bystrica). So liegen die Schichten der Bevölkerung übereinander, Verdrängtes, Verschollenes und Neugewordenes; mancherlei Mischung. Das Ladinische wird wohl immer weniger gesprochen werden; an seiner Stelle muß entweder italienisch oder deutsch gelernt werden; aber die ladinischen Namen werden sich erhalten.
In ihrer äußeren Erscheinung sind die Tiroler ein prächtiger Menschenschlag, an körperlicher Schönheit von keinem deutschen Volksstamm übertroffen, ja kaum erreicht. Selten wird man bei einer Bevölkerung so viele athletisch gewachsene Männer mit klassisch-ernsten Zügen, so viele Mädchen von überraschender Eleganz des Gesichtsschnittes finden, als in den Tiroler Thälern. Hervorragende Männererscheinungen finden sich im Pusterthale und dessen nördlichen Seitenthälern, im Zillerthale und in Passeier wohl am häufigsten; da kann man im Bauerkittel Männer mit lockigen Häuptern und wehenden Bärten sehen, germanischen Helden gleich; und mancher Schafhirte auf einsamer Hochalm erinnert an ein hellenisches Götterbild. Die Tiroler Mädchen sind teils, wie im Zillerthal, wahre Walkürengestalten; man findet aber auch viele feingliederige und zart gebaute; durchweg aber haben sie sehr lebhafte Augen, deren Glanz selbst im Alter nicht verlischt, und in der Jugend eine entschieden vornehme und graziöse Haltung. Und die Körperschönheit[S. 56] scheint um so hervorragender zu werden, je höher man in die einsamsten Thäler hinauskommt. Am wenigsten bevorzugt in körperlicher Hinsicht zeigen sich die alemannischen Volksbestandteile im Nordwesten. Im Süden findet man sehr häufig schon ausgeprägt italienische Typen.
Den äußeren Zügen entsprechen die des inneren Volkscharakters. Genügsamkeit, Einfachheit der Sitten, Frömmigkeit, Heimatliebe, Unterthanentreue, heldenmütige Tapferkeit: das sind des Tirolervolkes Haupttugenden. Die Fehler, die diesen Vorzügen gegenüber stehen, werden erklärlich durch die Natur des Landes. Die Abgeschlossenheit vieler Landschaften bedingt auch einen Abschluß der Geister gegen außen. Daher die unschwer zum Fanatismus zu steigernde Leidenschaftlichkeit in religiösen Fragen, Einseitigkeit des Urteils und Argwohn gegen das, was von außen kommt.
Übrigens findet man nicht leicht bei einem Volksstamme so große Verschiedenheiten und Gegensätze, wie bei dem Volk von Tirol. Diese Verschiedenheiten und Gegensätze sind bedingt durch die großen Unterschiede in der Wohnlichkeit, Wohlhabenheit und Verkehrsfähigkeit der Landschaften. Liegen doch da bei einander Thalgründe, in denen eine freigebige, sonnige Natur eine geradezu üppige Lebensart beinahe herausfordert, und wiederum Landschaften, wo die Natur ihre wildesten, rauhesten Seiten herauskehrt und beständigen todesmutigen Kampf gegen ihre Schneestürme und Lawinen, Steinströme und verheerende Wildwasser verlangt. So findet man denn oft hart nebeneinander aufgeklärten Freisinn und harten Fanatismus, weit blickenden Spekulationsgeist und beschränktes Festhalten am Althergebrachten, leutseliges Entgegenkommen gegen den Fremden und mißtrauische Abgeschlossenheit.
Tirol ist ein streng katholisches Land. Die Glaubenseinheit ward bis in die jüngste Zeit als ein kostbares nationales Kleinod hochgehalten, und es bedurfte langer Kämpfe, bis die erste protestantische Kirche auf dem Boden Tirols erstehen konnte. Nur langsam, und keineswegs überall,[S. 58] konnten die Tiroler überzeugt werden, daß unter den Protestanten ebenso gute, fromme und gerechte Menschen sein können, als unter Katholiken. Der wilde Heldenmut, mit dem das Tiroler Volk im Jahre 1809 sich gegen die bayerische Herrschaft aufbäumte, war zu einem guten Teile darin begründet, daß das Volk wähnte, sein Glaube sei in Gefahr; und der große Freiheitskampf war nicht bloß ein politischer, sondern zugleich ein religiöser Krieg. Hatte doch gerade damals die bayerische Regierung Klöster aufgehoben und eine Reihe von Maßregeln gewaltsamer Aufklärung angebahnt.
Dieser Glaubenseifer der Tiroler offenbart sich in ihrem Haus und in ihren Kirchen. Jede Wohnstube hat ihr kleines Heiligtum: eine Ecke, wo ein Kruzifix und einige Heiligenbildchen hängen. Vor und nach jeder Mahlzeit wird gebetet. Die Dorfkirche steht überall auf dem schönsten Platze und leuchtet weit ins Thal, umgeben von der Mauer des kleinen Friedhofes, in dem die Toten des Thales ihre ewige Ruhe gefunden haben. Jeden Sonntag wird die Messe gehört, zu der sich die Thalbewohner aus stundenweiter Ferne einfinden. Selbst die Bergführer versagen an Sonn- und Feiertagen ihre Dienste, ehe sie die Messe gehört haben. Auch das Fastengebot wird streng gehalten, ja oft auch der fremde Reisende zu seiner Einhaltung genötigt. Neben den Dorfkirchen gibt es zahlreiche einzeln stehende Kapellen und Wallfahrtskirchen; Wallfahrerzügen und Bittgängern kann man an Sonntagen häufig begegnen. Die Wallfahrt ist übrigens für den Tiroler nicht bloß eine religiöse Übung, sondern zugleich die einzige Veranlassung, aus dem engen Gesichtskreise seines Thales heraus unter fremde Menschen zu kommen und zu sehen, daß hinter den Bergen auch noch Leute leben.
Der fromme Sinn der Bevölkerung spricht auch aus unzähligen Wegkapellen, Wegkreuzen und Gedenktäfelchen, hier Bildstöckeln oder Marterln genannt. Die Wegkapellen aber haben nicht bloß den Sinn, zu einem kurzen Gebet einzuladen; sie sind zugleich, da immerhin ein paar Menschen in ihnen Platz haben, Zufluchtstätten bei wilden Unwettern, wie etwa die Kapelle auf dem Velber Tauern, auf dem Kitzbühler Horn und andere. Bildstöckel finden sich zahllos, an den Straßen wie an den schmalen Bergpfaden, selbst auf vergletscherten Jochen. Dem einsamen Wanderer in wilder Höhe erscheinen sie als ein Gruß menschlicher Teilnahme; meist aber sind sie Erinnerungszeichen für Menschen, die vom jähen Tod an der Straße ereilt wurden, von Lawinen erdrückt, von Gletscherbächen fortgerissen, von stürzenden Bäumen und Felsen zerschmettert, im Schneesturm verweht. Die meisten dieser Täfelchen zeigen auf einem, etwa mit drei Händen zu bedeckenden Raum eine bildliche Darstellung des Unglücks, einen frommen, oft gereimten Spruch und die Bitte an den Wanderer um ein kurzes Gebet.
Bei seinem starken Glauben hat das Tiroler Volk auch recht viel Abergläubisches. Daß man eine kranke Kuh lieber von einem Kapuziner segnen läßt, als daß man den gelernten Tierarzt befragt, schadet heute noch der Tiroler Viehzucht; auch der kranke Mensch wallfahrtet lieber zur Muttergottes von Absam, als zum berühmtesten Kliniker. Wetterbeschwörungen und Wetterläuten sind noch an der Tagesordnung und ungebrochen die Wunderkraft von Amuletten und Reliquien.
Die Gemütsart des Tirolers ist im ganzen eine vortreffliche. Ehrlichkeit und Treuherzigkeit ist ein Grundzug derselben. Nur ist der Tiroler doch so schlau, daß er, wenn er den Fremden damit beeinflussen kann, sich noch treuherziger und ehrlicher stellt, als er wirklich ist. Der durch seine rauhe Natur dem Volke anerzogene Mut steigerte sich früher, namentlich im Unterinnthal und Zillerthal nicht selten zur Rauflust, wobei es auf einige ausgedrückte Augen und abgerissene Ohren nicht ankam. Jetzt ist man in diesem Punkte gesitteter geworden. Grausamkeit und Wildheit mochten wohl während des Freiheitskampfes gegenüber dem Feinde vorkommen, erklären sich aber aus der Rauheit der Zeit. Der Familiensinn ist unter den Erwachsenen nicht besonders stark, hingebend und aufopferungsfähig aber gegenüber den Kindern.
Reich und großartig ist der Sagenschatz des Volkes. Das erklärt sich schon aus der ganzen Natur des Landes. Die vielen gewaltigen Berggipfel, die, entweder von ewigem Eis umpanzert oder aus fast lotrechten Felsschroffen bestehend, in die Thäler[S. 60] herabschauen, und von denen eine große Zahl im Laufe unseres Jahrhunderts zum erstenmal von kühnen Wanderfüßen betreten wurden, mußten ja wie von selber zu Hochburgen der Geisterwelt werden. So findet man durch ganz Tirol die Sage von den Wildfrauen oder Saligen Dirnen, die hoch droben in unzugänglichen Felswänden hausen, aber dann und wann herabsteigen in die Thäler, den Menschen jahrelang friedlich und willig als Mägde dienen und Segen in die Häuser bringen, auf einmal aber durch geheimnisvolle Erscheinungen und Botschaften abgerufen werden und mit leidvollem Gruß für immer verschwinden. Die Lawinen, Bergstürze und Schlammströme, die in vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit so viele Häuser und Ortschaften verwüsteten und so manche Stätte langen Menschenglückes spurlos verschwinden ließen, mußten Veranlassung werden zu den Sagen von verschütteten Thälern, von versunkenen Städten und eisübergossenen Weideländereien. Die ausgedehnten Räume, die der Mensch nicht selber bewohnte, weil sie unbewohnbar waren, bevölkerte er wenigstens mit den Gestalten der Phantasie; er ließ diese Gestalten in Wetterwolken die Gipfeltürme umreiten und gab ihnen eine Heimat in den zahllosen öden Thalwinkeln, die nur mit Felstrümmern und alten Lawinenresten erfüllt sind. Wo eine einzelne Felsbildung von besonders auffallender Gestalt erscheint, wird sie von der schöpferischen Einbildungskraft mit Ereignissen und geheimnisvollen Lebewesen bedacht, die sie umgeistern. Dazu liefern weiteren Stoff die zahllosen Burgen, die, teils völlig zertrümmert, teils noch halb erhalten, ihre freundlichen oder wilden Schatten beherbergen müssen. Es ist eben dem Volksgemüt unfaßbar, daß gar nichts mehr in jenen Mauerresten wohnen soll, die so düster und rätselhaft von ihren Felsen herunterschauen. Dazu kommen dann noch spurlos sich verlierende Wege, zerfallene Brücken, verlassene Häuser, unkenntlich gewordene Denkmäler, an die sich Sagen heften. Vieles auch, was einst Geschichte war und aus dem Gedächtnis der Menschen wich, ist Sage geworden; Sage die eine oder andere Erinnerung an die Zeit der alten Rhätier und der Römerherrschaft; Sage die Erinnerung an die Kämpfe zwischen Germanen und Römern, zwischen Franken und Longobarden, zwischen Bajuwaren und Slaven. Groß und herrlich hebt sich aus all’ diesen Gestalten eine hervor: die des unerreichten Dietrich von Bern, des großen Ostgotenkönigs, den die Tiroler Heldensage sieghaft einreiten läßt in den Zaubergarten des Zwergkönigs Laurin. Und dieser Zaubergarten leuchtet ja heute noch im Abendsonnenfeuer mit seinen Dolomittürmen so märchenhaft über die Thäler hin!
Eigenartige Volkstrachten haben sich nur im deutschen Teile Tirols, in einzelnen ladinischen Thälern noch bei den Frauen erhalten. In Deutschtirol hat jedes Thal gewisse Besonderheiten seiner Tracht. Diese Besonderheiten verschwinden allmählich in den vom Verkehr am meisten berührten Landschaften. Charakteristisch für den Deutschtiroler ist die kurze Lodenjoppe. Die Beinkleider sind, wo man noch an alter Tracht festhält, kurz; sie reichen nur bis unter das Knie, sind bei den Wohlhabenderen von Leder, bei Ärmeren von braunem Loden. Unter dem Knie beginnen Strümpfe, weiß oder grau; die Füße stecken in starken Schuhen, die den Knöchel frei lassen. Barfüßig oder in Holzschuhen sieht man den Tiroler kaum; das leidet sein Boden nicht. Die örtlichen Unterschiede machen sich zumeist an den Hüten geltend. Der Tuxer trägt einen anderen Hut als der Zillerthaler, und der Pusterthaler bedeckt sein Haupt mit etwas anderem als der Passeirer (Abb. 20 bis 24). Am schärfsten ausgeprägt ist die Volkstracht noch um Meran, im Sarnthal, in den nördlichen Seitenschlünden des Pusterthales (Abb. 25 bis 29). Namentlich in der Umgebung von Meran sieht man noch jene behäbigen Männer mit den breitkrempigen Spitzhüten, den breiten farbigen Hosenträgern und schneeweißen Kniestrümpfen. Für die Erhaltung der männlichen Volkstracht ist das Schützenwesen von Bedeutung (Abb. 30). Die in den größeren Thälern gebildeten Schützencompagnien konnten keine praktischere und kleidsamere Uniform finden, als die alte Volkstracht; dadurch ist die letztere zum Ehrenkleid geworden und in dauernden Zusammenhang gebracht mit der vom Tiroler so sehr geliebten Waffe. Die Männertrachten der einzelnen Thäler sieht man daher am besten bei Festlichkeiten, wenn[S. 62] die Schützencompagnien ausrücken. Da sieht man auch, daß zur Landestracht außer Joppen, Kniehosen und Strümpfen auch ein silberbordierter Brustfleck (statt der Weste) und ein gestickter breiter Ledergürtel gehören.
Auch bei der Frauentracht sind die Kopfbedeckungen von Thal zu Thal verschieden: es sind bald spitzige, bald cylinderförmige hohe Hüte, bald niedrige Hütchen mit runden Köpfen, bald unförmliche Filzhauben, die auch dem schönsten Gesicht nicht zur Zierde gereichen (Abb. 31 bis 37). Charakteristisch ist das Mieder, das beim Festschmuck aus schwarzem Stoffe, oft aus Sammet und mit silbernen Ketten verschnürt ist; das Werktagsmieder besteht aus dunklem festen Stoffe, aus dem die faltigen Hemdärmel hervorquellen. Statt der Mieder oder über denselben werden auch kurze eng anliegende Jäckchen getragen. Wo die Ärmel nur bis zum Ellenbogen reichen, ist der Unterarm nicht selten mit einem sammetnen oder wollenen Halbärmel bekleidet, einem sehr kleidsamen Stück des Frauengewandes. Die Röcke sind überall, wie es zum Arbeiten und Bergsteigen gehört, kurz, von festen Stoffen. Zum Frauengewande gehört auch gern ein buntfarbiges seidenes Halstuch.
Sobald man den Boden Welschtirols betritt, hört überhaupt jede Nationaltracht auf. Da sieht auch der Landbewohner aus wie ein städtischer Proletarier. Die Männer in Welschtirol tragen mit Vorliebe groß karrierte Anzüge billigster Herkunft, die, wenn sie einigermaßen abgetragen sind, unglaublich zerlumpt aussehen, dazu zerdrückte Filzhüte oder Strohhüte vom dürftigsten Aussehen. Häufig sieht man bei den Männern auch Anzüge von schäbigem ordinären Sammet. Die Frauen Welschtirols, die meistens spärlich gewaschen und schlecht frisiert sind, würden in ihren Werktagsgewändern kaum anzuschauen sein, wenn ihnen nicht das göttliche Erbteil schön geschnittener Gesichter, feuriger Augen und graziöser Bewegungen geblieben wäre. Armut, zahlreiche Kinder und Arbeitsbürde drücken hier die äußere Erscheinung des schönen Geschlechts, das lernen muß, sich zu vernachlässigen. Manche Thäler machen anmutige Ausnahmen.
Die Volksnahrung ist höchst ungleichartig, je nachdem es sich um die Kost in den fruchtbaren Hauptthälern oder in den entlegeneren Hochgebirgsdörfern, in Bauernhäusern oder in Sennhütten handelt. Selbst wenn wir von den vortrefflichen Tischen der Bozener Stadtbürger absehen und bloß bei der Nahrung der eigentlichen Landbevölkerung bleiben, finden wir Gegensätze von einer fast üppig zu nennenden Ernährungsweise bis zu einer staunenswerten Bedürfnislosigkeit. In den Bauernhäusern des gesegneten Burggrafenamts (Umgebung von Meran) wird täglich dreimal warm gegessen; und in den Zwischenzeiten gibt es noch Wein und Brot. Da fängt man des Morgens mit einem kräftigen Frühstück, aus Brennsuppe und Milchbrei bestehend, an, hat vormittags (Halbmittag) Wein und Brot; mittags die beliebten mannesfaustgroßen Tiroler Knödel und dazu ein Gericht von frischem oder geräuchertem Fleische, nachmittags die „Marend“, d. h. Wein und Brot, bei schwerer Arbeit auch Käse; und abends wieder eine dicke, kräftige, reichlich mit Fleisch versehene Suppe. Dabei kann der Mensch bestehen und seine Kraft erhalten. Und selbst an Fasttagen hat man nicht bloß vortreffliche Mehlspeisen, sondern auch Delikatessen, insbesondere marinierten Aal, der in den Bauernhöfen des Burggrafenamts in staunenswerten Mengen vertilgt wird.
Ungleich bescheidener lebt man freilich in den braunen Holzhäusern der entlegenen Seitenthäler, wo auf dem Bauerntische das Fleisch um so seltener wird, je höher man in den Thälern hinaufsteigt. Und das Hirtenvolk droben auf den Almen hat vollends eine Nahrung, die nur eiserne und bedürfnislose Naturen vertragen: steinhartes Brot, einen für Städter kaum genießbaren grünlichen Käse aus Schaf- oder Ziegenmilch, und vielleicht einmal im Tage eine schwere, grobe Mehlspeise. Getrunken wird dazu das trübe eiskalte Wasser des Gletscherbaches.
Gewisse Nahrungsmittel aber kennt man in ganz Tirol, vom reichsten Bauern bis in die ärmste Hütte hinauf. Dahin gehören die Knödel: holperige massive Kugeln aus Mehl, Milch, Brot und Eiern, in Wasser gekocht. Sie werden mit Kraut oder gedörrtem Obst genossen. Ebenso allgemein verbreitet ist das „Geselchte“: geräuchertes Fleisch, das in allerhand phantastischen Formen im Rauchfang des Tiroler Bauernhauses hängt, bis es auf den Tisch[S. 64] des Hauses herabgeholt wird; schmackhaft und kräftig, wenn es vom Rind oder Schweine stammt, aber für jeden Nichttiroler ein Grauen, wenn es als „Böckernes“ seinen Ursprung der gehörnten Ziege oder gar deren bärtigem Gemahl verdankt.
In Welschtirol macht man nicht so viel Umstände mit der Nahrung als in Deutschtirol. Dort ist das gewöhnliche, ja fast einzige Nahrungsmittel die Polenta, jener dicke, geschmacklose Brei aus Maismehl, der in großen Mengen verschluckt werden muß, um nur überhaupt den Menschen bei Kraft zu erhalten. Der wohlhabende Südtiroler und der Fremde erhält dagegen zu mäßigen Preisen einen gut bereiteten und mannigfaltigen Tisch, dem der feurige Wein aus dem unteren Etschlande und die zarten Früchte, die den Nachtisch bilden (das Giardinetto), noch besonderen Reiz verleihen.
Das Tiroler Bauernhaus ist aus Stein oder aus Holz, oft aus beidem. Die örtliche Bausitte nimmt eben, was sie findet. In den größeren Thaltiefen ist meist der Steinbau vorherrschend, besonders an der vorderen Hälfte des Hauses, die den Menschen zum Aufenthalte dient, während die Rückseite, die Stall und Scheune enthält, auch hier häufig aus Holz erbaut ist. Gemeinsam haben die steinernen und die hölzernen Häuser die Kleinheit ihrer Fenster und das flache, weit vorspringende Dach, das mit Schindeln belegt ist. Diese sind meist nicht festgenagelt, sondern durch steinbelastete Stangen festgehalten. Die steinernen Häuser haben häufig runde oder eckige Erker, die manchmal nur einem, manchmal mehreren Geschossen angehören. Nicht selten liegt die Eingangsthüre erhöht; dann führt eine Freitreppe mit alten Eisengeländern zu ihr empor. Die holzgezimmerten Häuser sind aus vierkantigen Balken, meist von Lärchen- oder Zirbenholz, welches im Alter eine prächtige feurigbraune Farbe gewinnt. Sie sind häufig mit Balkonen versehen, die um eine oder um mehrere Seiten des Hauses laufen, und mit Schnitzwerk verziert. Solcher Zierat ist freilich am reichsten an den behäbigeren Häusern der großen wohnlichen Thäler; seltener oder verschwindend in den ärmeren Hochthälern und nie so kunstvoll wie etwa an den stolzen Gehöften, die man im Berner Oberlande zu sehen bekommt. Die Gegensätze, die in Tirol[S. 65] die menschlichen Wohnungen aufweisen, sind recht groß; denn wenn manche Bauernhäuser im Unterinnthale oder im Meraner Burggrafenamt den Eindruck von lachenden Burgen des Wohlstandes machen, kann man dafür in den altersbraunen Holzhüttchen von Prägraten oder Pfelders oder in den trostlosen Steinhöhlen, die auf dem Reschenscheideck liegen, Wohnstätten erkennen, in welchen wohl nur äußerste Bedürfnislosigkeit zu hausen vermag (Abb. 38 bis 47).
So sind auch Hausgärten und Blumenschmuck nur in den tieferen Thälern zu finden. Im Innthale nicken rote Nelken von allen Balkonen, und aus den kleinen Bauerngärten schimmern Sonnenblumen und Rittersporn. Droben im Ötzthal und in den Tauerndörfern grüßt uns kaum eine Blume mehr; die Menschen, die da droben hausen, haben zu hart um ihr Dasein zu ringen, als daß sie noch an solchen Schmuck desselben denken könnten.
Ganze Dorfschaften sowohl als auch Einzelngehöfte lagern vorzugsweise an dem sonnseitigen Abhang der Thäler. Denn da kommt nicht bloß der Lenz früher, auch der Tag ist länger mit seinem Sonnenschein. Darum findet man bei allen in ostwestlicher Richtung sich dehnenden Thälern die nach Süden geneigten Thalwände besiedelt, wenn es die Steilheit der Hänge erlaubt, während die nach Nord schauende, also südlich liegende Thalwand, dem finsteren Wald überlassen bleibt. In den von Nord nach Süd streichenden Thälern dagegen setzt sich die Ansiedelung dorthin, wo das sanfteste Gehänge ist oder wo der Thalgrund zu kleinen Ebenen sich ausweitet. Das ist zumeist dort der Fall, wo in ein größeres Thal Seitenthäler münden. Und auch das einzelne Haus liebt es, seine Vorderfront nach Süden zu kehren, wenn das irgendwie angeht. In der Regel suchen die Ansiedelungen die Thalsohle auf; ist diese aber versumpft, so streben die Gehöfte an die Berglehnen hin und um so höher an diesen empor, je sanfter, sonniger und fruchtbarer das Gehänge, die Neigung der Berglehnen sich erweist. In manchen Thälern sieht man darum Dörfer und Einzelnhöfe stundenweit über der Thalsohle liegen, in welcher der Thalbach entweder durch sumpfige Erlenniederung fließt oder durch Schluchten sich ein wildes Bett[S. 66] gebahnt hat; und wenn unten schon lange die Schatten des Abends liegen, glänzen hoch oben die Dörfer mit ihren Kirchen noch im Sonnenlichte. Nicht ungern haben sich auch die Ansiedelungen auf jene flachen Schuttkegel hingelegt, die in längstvergangener Zeit dort entstanden, wo aus den Seitenschluchten verheerende Schlammströme hervordrangen und ihren festen Bestand im Hauptthale ablagerten.
Die Bauweise wird um so steinerner, je weiter man nach Süden kommt. Zugleich streben die Häuser mehr in die Höhe. Aber auch in Welschtirol besteht ein starker Unterschied zwischen den ladinischen und den italienischen Thälern. Die Häuser in den ladinischen Thälern unterscheiden sich nicht wesentlich von denen im mittleren und nördlichen Tirol; nur der Holzverbrauch daran ist geringer. In den italienischen Dörfern sehen auch die Häuser italienisch aus; mehrstöckig steigen sie auf, schmutzig und verwahrlost. So sieht man sie namentlich in Judicarien. Solange die Seidenzucht blühte, gehörte hier das oberste Stockwerk den Seidenwürmern, die man da droben verpflegte. Jetzt, nachdem dieser Betriebszweig stark zurückgegangen ist, füllen die Judicarier auch die obersten Stockwerke mit zweibeinigen Würmern an; aus allen Fenstern kreischen zerzauste Italienerinnen und kleine, schwarze, schmutzige Italiener.
Eigenartig wie die Bauart der ländlichen Häuser ist auch jene in den Städten, soweit sie alt ist. Man kann in Tiroler Städten heute noch zahllose Häuser finden, die viel eher als kleine Ritterburgen, Miniaturklöster oder erweiterte Hexenküchen wie als bewohnbare Häuser erscheinen. Ja, manche Städte, wie Rattenberg, Sterzing, Klausen, sind fast nur aus solchen Häusern zusammengesetzt. Die Eingangsthüren dieser Häuser sind meist mit marmornen Bogen überwölbt; dann geht es aber hinab, statt hinauf, in ein finsteres, kerkerartiges Gewölbe, das als Vestibül dient. Finster ist auch die steinerne Stiege, die in irgend einem Winkel in die Höhe führt. Die alten Tiroler Baumeister scheinen das Ideal des Hauses in der Unregelmäßigkeit gesehen zu haben; wo es immer möglich war, wichen sie von der wagrechten und senkrechten[S. 68] Linie ab. Fluren, Zimmerböden, die Decken der Gänge und der Zimmer heben und senken sich nach Willkür. Zimmer und Gänge liegen häufig in ungleichen Höhen; es geht beständig treppauf, treppab. Manche Zimmer erhalten ihr Licht durch ein Loch aus einem höher gelegenen Zimmer oder Flur, und man würde sich nicht wundern, einmal in einem Raum zu stehen, der das Fenster im Boden und die Thüre im Plafond hat. Malerisch aber sind alle diese Häuser, von denen manches an seiner Außenseite die Spuren verblichener Freskomalerei trägt; und so auch die Gäßchen, wo verirrte Sonnenstrahlen zwischen Schattenwinkeln umherhuschen und die roten Nelkenköpfchen hinter den Gitterfenstern küssen.
Die ländlichen Bestandteile des Tiroler Volkes sind Bauern und Hirten. Der Arbeit des Bauern sind die Thaltiefen und die bewohnbaren niedrigeren und sanfter abgedachten Berghänge überlassen; jener des Hirten die höher gelegenen Hänge und Mulden des Gebirges. Diese verschiedenen Arbeitsfelder gehen ineinander über; so auch die Volksklassen, die darauf leben. Im Winter muß auch das Hirtenvolk zum Bauernvolk werden (Abb. 48 bis 50).
Die bäuerliche Bevölkerung wohnt, je nachdem es die Ansiedelungsflächen gestatten und nötig machen, bald in Dörfern, bald in Einödhöfen. In den Dörfern drängt sich Wohlhabendes und Ärmeres zusammen; da wohnen neben den Bauern auch manche Kleinhäusler. Die einzeln liegenden Gehöfte gehören meist wohlhabenderen Bauern. Da sitzt der Bauer auf seinem Hofe oft mit 10–12 Ehehalten (Dienstboten), die alle an seinem Tische essen und unter seiner Leitung arbeiten. Jener Teil des Jahres, der nicht von der Feldbestellung und von den Erntearbeiten beansprucht ist, gehört den Arbeiten im Walde und auf der Viehweide. Zu jedem ordentlichen Bauernanwesen gehört auch ein ansehnliches Stück Wald und Almländereien; wichtige Winterarbeiten sind der Transport von Holz und Streu aus den Wäldern, von Heu aus den Heustädeln der höher gelegenen Bergwiesen nach den Gehöften.
Im Frühjahr wandert ein Teil des Gesindes mit dem Vieh nach den Höhen, um bis zum Herbste als Hirtenvolk droben zu leben. Bloß in einzelnen Teilen Nordtirols werden die Almen von Sennerinnen bezogen; im größten Teile des Landes von Männern, die entweder Senner (Melcher) oder Ochsner sind. Senner und Sennerinnen haben die Milchkühe zu versorgen, Milch, Butter, Schmalz und Käse zu gewinnen, und, was sie davon nicht selber verbrauchen, ihrem Bauer ins Thal hinabzutragen. Die Ochsner hüten jene Herden von Jungvieh, welches, zur Handelsware bestimmt, im Frühsommer auf die Almen getrieben wird, um sich droben mit den kräftigen Gräsern und Kräutern des Hochgebirges zu nähren. Die Arbeit der Senner verlangt mehr Kenntnis und Sorgfalt, auch größere Reinlichkeit. Darum sind die Hütten der Senner, und ganz besonders der Sennerinnen, wohnlicher und sauberer; jene der Ochsenhirten und noch mehr der Schafhirten dagegen erscheinen als die denkbar urwüchsigsten menschlichen Behausungen, ohne Spur von Bequemlichkeit; nur ein Heulager und eine oft nicht einmal über den Erdboden emporragende Feuerstätte unter einem Dache und zwischen Wänden, durch die der Bergsturm heult. Wege freilich müssen zu all’ diesen Hütten führen; aber bloß um der Tiere, nicht um der Menschen willen.
Eine eigentümliche Art von Wanderung veranlaßt auch die Zeit der Heumahd auf den Alpenwiesen. Jene großen ergiebigen Grasflächen, welche nicht als Weideland benützt werden, sondern deren Heu man in die Gehöfte herabbringen will, um es als Winterfutter zu benützen, können, wenn sie von den Dörfern entfernt liegen, nicht an einem Arbeitstage gemäht werden, sondern verlangen mehrtägige Arbeit. Da wandert denn ein großer Teil der Dorfbevölkerung mit Sensen, Rechen und Heugabeln nach den Höhen hinauf; auch Kochgeschirr und Nahrungsmittel werden mitgenommen, und es beginnt eine Zeit froher Arbeit unter blauem Himmel, angesichts der prachtvollen Bergwelt. Dabei kommen allerlei Übermut, Scherz und Gesang und auch die Liebe zu ihrem Recht; übernachtet wird auf duftendem Heulager.
Technisch sind die Tiroler erfinderische Köpfe. Man kann in ganz abgelegenen Thälern sehen, wie der Erfindungsgeist mit der rauhen Natur kämpft und ihre Kräfte[S. 70] dienstbar zu machen sucht. Der Hirt, dem der Gletscherbach den Steg zu seiner Hütte fortgerissen hat, muß sich eine neue Brücke bauen; er muß sein eigener Ingenieur sein. Als Naturkraft ist überall das fließende Wasser zu haben. Man nützt es aus, indem man durch kleine Mühlrädchen Butterfässer und Drehbänke, ja selbst Kinderwiegen in Bewegung setzt. Kleine, mit Dünger beladene Wagen werden auf steile Bergwiesen durch ein Seil hinaufgezogen, das über eine von einem Mühlrad getriebene Welle läuft. So braucht man überall die Bergbäche zum Betrieb von Mühlen, Hammerwerken, Sägen und dergleichen.
Die industrielle Thätigkeit des Tiroler Volkes ist weit vielseitiger, als der Reisende, der das Land nur auf Dampfesflügeln durcheilt, anzunehmen geneigt ist. Für ihn verschwindet sie nur im Vergleich zu der kolossalen Natur, unter deren Riesengebilden die Gestaltungen des menschlichen Gewerbfleißes notgedrungen etwas zwerghaft erscheinen müssen. Die mineralische Rohproduktion entringt den Eingeweiden der Erde Eisen, Kupfer, Blei, Zink und Braunkohlen. Wichtiger als all’ dies zusammen ist das in den Salinen von Hall gewonnene Salz. Hochachtbar ist ferner die Erzeugung von Cement und hydraulischem Kalk in der Umgebung von Kufstein und Kirchbichel; die Produkte derselben gehen nach Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und den Donautiefländern. Auch die Marmorbrüche von Trient und Laas führen einen Teil ihres Erzeugnisses aus. Die Metallindustrie ist von alters her eine blühende im Unterinnthale, namentlich für landwirtschaftliche Werkzeuge, Sensen, Sicheln, auch Äxte, Sägen und dergleichen. Die Nahrungsmittelindustrie liefert konservierte Gemüse und Früchte; letztere in unerreichter Güte; große kaiserliche Tabakfabriken arbeiten in Schwaz und Sacco (Etschthal). Die Baumwollindustrie ist in Vorarlberg mit glänzenden Erfolgen und in großen Etablissements thätig; sie umfaßt Spinnereien, Webereien, Kattundruckereien, chemische Bleichen und Färbereien (Türkischrot). Im Innthale werden neben Baumwollwaren auch Leinen- und Schafwollwaren erzeugt; eine Specialität ist der unverwüstliche Tiroler Lodenstoff. An die Stelle dieser Zweige der Textilindustrie tritt in Südtirol, von Bozen abwärts, die Seidenindustrie, mit dem Centrum Rovereto; leider in starkem Rückgange wegen der Seidenraupenkrankheit; so daß 1886 noch 1500000 kg Rohseide erzeugt wurden, 1892 nur mehr 662500. Fabriken für Seidenstoffe arbeiten zu Ala und Rovereto. Die Holzschnitzerei ist als Hausindustrie im Grödener Thal verbreitet und genießt eines vortrefflichen Rufes.
Die Lage Tirols zwischen Deutschland und Italien machte das Land schon im Mittelalter zu einem wichtigen Durchzugsgebiet und weckte bei den Anwohnern der Hauptverkehrswege einen gewissen Handelsgeist. Aber bei der Armut und der Einfachheit der Bedürfnisse, die in den abgelegeneren Thälern herrscht, konnte von einer lebhafteren Entwickelung des Binnenhandels nicht die Rede sein; Bozen ist die einzige Handelsstadt; die übrigen Plätze beschränken sich meist auf Specialitäten. Die, namentlich früher, recht unvollkommenen Verkehrsgelegenheiten mußten dem Hausierhandel eine erhöhte Bedeutung zuweisen; so stellten denn die Tiroler einen ansehnlichen Beitrag zum internationalen Hausiergewerbe und waren vordem als Teppichhändler überall in Deutschland und Oesterreich gesehen. Diese Teppichhändler kamen zumeist aus dem Defferegger Thale; aus dem Zillerthale die Handschuh- und Viehhändler; mit Holzschnitzereien wanderten die Grödener, mit Südfrüchten die Passeirer und Vintschgauer. Die Bewohner anderer Thäler unternehmen als Arbeiter Wanderungen nach Deutschland, Österreich und Italien. So findet man allenthalben in diesen Ländern Tiroler als Maurer, Steinmetzen und Stuckateure, Ziegelarbeiter, Hausknechte, Holzarbeiter. Glänzende Reichtümer werden selten heimgebracht; doch sind einzelne Leute in ihr heimisches Thal mit ansehnlichen Vermögen zurückgekehrt; und alle diese Wanderarbeiter verdienen in der Fremde mehr, als sie daheim erwerben könnten.
Die denkbar schroffsten Gegensätze weist in Tirol das Verkehrswesen auf. Durch das Innthal, über den Brenner, durchs Puster- und Brixenthal, über den Arlberg, und durch die Veroneser Klause donnern die Eilzüge mit ihren bequemen Schlafwagen. Aber von manchen Stationen dieser Bahnen führt keine Straße mehr weiter,[S. 72] sondern nur Saumwege. Und aus dem Fenster des dröhnenden Eisenbahnwagens sieht man gegenüber an den Felswänden Steige, die nur der schwindelfreie Älpler zu begehen vermag. Die Tiroler Poststraßen sind fast durchgängig vortrefflich, einzelne von ihnen wahre Meisterwerke des Straßenbaus, wie etwa die Straße von Landeck über Finstermünz und die Malser Heide nach Mals, die Stilfser Jochstraße, der kühne Straßenzug über die Mendel, der Fernpaß und andere. So wie man jedoch die Poststraßen verläßt, werden die Wege dürftig. Die kurzen Anfangsstrecken, die in die Seitenthäler hineinführen, sind noch zur Not fahrbar; oft hört aber bei der ersten Thalstufe schon der Wagenverkehr auf; die Saumpfade beginnen und die letzten Verzweigungen der Wege sind schwindlige Fußsteige, an Abgründen entlang führend und zuletzt in Fels- und Eiswüsten endend. Und nicht bloß Fußsteige und Saumwege; auch Fahrstraßen werden oft genug im Frühjahr durch Lawinen, im Sommer durch Gewitterregen streckenweise ungangbar gemacht, zerrissen, mit Schlamm- und Steinströmen überschüttet. So ist der Verkehr zwischen den hoch gelegenen Gebirgsdörfern und den tieferen Thallandschaften schon in der guten Jahreszeit oft erschwert, im Winter wochenlang unmöglich, bis durch den tiefen Neuschnee Bahn geschaffen ist.
Der stark ausgeprägte künstlerische Sinn des Tirolers bethätigt sich zunächst in seiner Architektur. Daß das Tiroler Bauernhaus weit interessanter und mannigfaltiger in seiner Erscheinung ist, als das fränkische oder niedersächsische, hat seine guten Gründe. Die von der Natur aufgenötigte Verschiedenheit des Baumaterials, die Unebenheit des Bodens, das Streben nach der Sonnenseite und nach der Front des Thalwegs: alle diese Bedingungen wiesen den Tiroler Baumeister seit den ältesten Zeiten auf eine Mannigfaltigkeit der Bauformen hin, die eben in der Ebene nicht notwendig ist und sich deshalb auch nicht ausbildet. Zu diesen natürlichen Bedingungen der Entwickelung des Kunstsinns kamen noch geschichtliche Verhältnisse: die Einflüsse der römischen Kunst in den Zeiten der Römerherrschaft, der Anregungen aus Italien seit dem Mittelalter. Der Bau des Bauernhauses mußte wieder auf den Bau der Kirchen einwirken, womit dann weiter deren innere Ausschmückung, Plastik und Malerei, zusammenhängen. Frühzeitig mußten die Tiroler zu der Empfindung kommen, daß ihre Häuser, Kirchen, ja die ganzen Ortschaften nicht bloß architektonisch, sondern auch landschaftlich wirkten. Die Plastik, für kirchlichen Schmuck und für die kleinen Heiligtümer des Hauses arbeitend, konnte namentlich auf Holzbildhauerei sich werfen; die Malerei, ebenfalls zumeist für kirchliche Zwecke schaffend, ward mit Vorliebe Heiligen- und Historienmalerei. Der berühmteste unter den Tiroler Malern ist Franz von Defregger geworden, ein Bauernsohn aus dem Pusterthale, dessen künstlerische Kraft sich aus den Stoffen und Zuständen seiner Heimat unerschöpfliche Jugend sammelt. Neben ihm steht würdig Mathias Schmid aus Paznaun (Abb. 51 und 53). Daß die Künstler Tirols ihre Werkstätten nach auswärts verlegten, hat seinen guten Grund; die Kunst bedarf jenes geistigen Luftzuges, der durch die große Welt, nicht durch die engen Thäler weht. Darum hat auch die Dichtkunst keine rechte Heimstätte in Tirol gefunden. Wohl rühmt sich das Land, daß des edlen Minnesängers Walther von der Vogelweide Heimathaus auf luftiger Höhe über dem Eisack steht (Abb. 52); aber auf die neuere und neueste Entwickelung deutscher Sprache und Dichtung hat Tirol keinen Einfluß genommen. Das liegt indessen nicht am Volke, sondern an seinen bisherigen Erziehern, die der Freiheit des Denkens und Empfindens nicht jenen Spielraum ließen, dessen sie zu litterarischen Großthaten bedurft hätte. Der Tiroler wird in seinen Thälern wohl zu einem frommen und patriotischen Empfinden erzogen, aber nicht zu jener Weltumschau und geistigen Flugkraft, die man vom modernen Schriftsteller verlangt. Beda Weber und Hermann von Gilm sind die hervorragendsten Dichter Tirols aus diesem Jahrhundert; aber sie sind außerhalb Tirols kaum genannt. Das Land muß seinen Klassiker noch gebären; aber daß es ihn aus seinem Felsenboden hervortreten lassen wird, ist sicher bei einem Volke, dessen Phantasie dereinst die glanzvollen Gestalten des deutsch-langobardischen Sagenkreises schuf und von dessen Burgen so reich der Minnesang erklungen ist.
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Der künstlerische Sinn des Volks zeigt sich auch im Volksgesang. Es ist aber merkwürdig, wie ungleichartig die Freude am Singen verbreitet ist. Die klingende jauchzende Heimat des Tiroler Volksliedes ist das Zillerthal mit seinen grünen Matten und seinen schneidigen lebensfrohen Menschen. Hier schallt aus jeder Hütte das zur Musik gewordene Denken und Fühlen des Volks. Von hier aus hat die sangeskundige Familie der Rainer ihre Liederfahrten um die Welt gemacht und sich Ehren und Reichtum erworben, ohne ihrer Tiroler Heimat darüber zu vergessen. Es ist freilich nicht mehr alles, was man im Zillerthale hört, reiner Volksgesang; verführt vom Beifall der großen Welt, haben die Tiroler sich zu ihren alten Liedern manches hinzugesungen und hinzukomponieren lassen, was nicht echt ist. Aber echt ist ihre Freude am Gesang, echt ihr Talent. Außer dem Zillerthal singt man auch gern im ganzen Unterinnthal und in all’ den Thälern, die an die almenreichen bayerischen Berge angrenzen. Auch im Pusterthale wird gesungen; aber da mischen sich in den jauchzenden übermütigen Klang der Lieder jene eigentümlichen schwermütigen Motive, die dem Kärntner Volkslied eigen sind und wohl südslavischen Gesängen entstammen oder nachempfunden wurden. In den übrigen Thälern Tirols singt man nur, wenn der Wein die Zungen löst — ausgenommen im liederfrohen Ultner Thale.
Der Gesang verbindet sich entweder mit dem Trinken oder mit der Liebe. In den Nordtiroler Wirtshäusern wird gesungen, wenn sich die Bursche, jeweils auch Bursche und Mädchen an Sonntagen versammeln. Dann lösen Gesang und Tanz sich ab. Auch in den Almhütten beim Herdfeuer und auf den Bergwiesen bei der Heumahd wird gern gesungen. Seine trutzigsten Lieder singt der junge Tiroler, wenn er vom „Gasselgehen“ heimkehrt. Das Gasselgehen ist der Gang an Liebchens Fenster, ein Gang, der in allen Alpenländern und auch anderwärts vorkommt. Führt er den jugendlichen Wagehals in ein fremdes Dorf, so ist er nicht ganz gefahrlos; denn es kann dem Eindringling leicht begegnen, daß er von eifersüchtigen Gegnern „heimgescheitert“, d. h. mit Baumästen, Holzscheiten und Zaunpfählen während seines Rückzugs geworfen wird, wobei schon mancher feurige Liebhaber auf dem Platze geblieben sein soll. — Eine durchaus bodenständige Kunst, aber merkwürdigerweise nur im Unterinnthal und dessen Nachbarschaft, ist das volkstümliche Drama. Man muß die Bauerntheater in Thiersee, in Brixlegg, in Erl gesehen haben, um darüber zu staunen, mit welchem sicheren künstlerischen Bewußtsein eine kleine bäuerliche Dorfbevölkerung sich einen Tempel dramatischer Muse schafft, ihn mit Gestalten belebt und ihn mit herzlicher Zuneigung zur Blüte ihres Genußlebens macht. Auf den Tiroler Bauerntheatern werden, durchwegs von Bauern, Stücke gespielt, deren Inhalt der Leidensgeschichte Christi, aber auch der christlichen Legende, der deutschen Volkssage, der Geschichte des romantischen Mittelalters, dem Tiroler Freiheitskriege und dem bäuerlichen Leben der Gegenwart entnommen ist.
Daß das Schwergewicht nationaler Bedeutung für Tirol in den Dörfern, nicht in den Städten liegt, erklärt sich leicht. In den Städten hat man, seit sie bestanden, behaglich gelebt; den stählenden Kampf ums Dasein mußte seit Jahrhunderten der Bauer führen. Er mußte sein Besitztum und seine Arbeitsfrucht ununterbrochen einer erbarmungslosen Natur aus den Felsenzähnen reißen, während der Städter, von seinen Mauern und Thoren geschirmt, unter schützenden schattigen Lauben gefahrlosen Erwerbs sich freute, den der lebhafte Verkehr an den alten Welthandelsstraßen reichlich bot. Bozen mußte bei seinem milden Klima und seiner an Blüten und Früchten reichen Umgebung schon im Mittelalter eine Stadt des Wohlstands und des Genusses sein, die von der Natur mehr begünstigt war, als irgend eine andere Stadt im deutschen Sprachbereich. Und daß auch Innsbruck und die kleineren Tiroler Städte gern manches vom heiteren Lebensgenuß des Mutterländchens annahmen — wen möchte das wundern? So finden wir in den Tiroler Städten nicht jene stahlklirrende Arbeitshast, jene nervenzerstörende Unrast, jenen freudlosen Erwerbseifer, wie in vielen gleich großen deutschen Städten. Man nimmt sich Zeit zum Leben hier in den alten behäbigen Bürgerhäusern; in den Amts- und Ratsstuben, wo gemütliche, nichts übereilende Würdenträger hausen; in den sauber getäfelten, zum langen Sitzen so geeigneten[S. 76] Speisezimmern der Gasthäuser, wo es so zarte Backhühner und so feurigen Kalterer Specialwein gibt!
Unter den von Norden her nach Tirol führenden Zugängen ist bei weitem der wichtigste jenes breite Felsenthor, das sich der Innstrom zum Ausgang aus Tirol durch die nördlichen Kalkalpen gesucht hat. Wer auf der München-Innsbrucker Bahnlinie sich diesem Felsenthore nähert, sieht schon von der bayerischen Hochebene aus seine dunkel bewaldeten Eckpfeiler und hinter ihnen die Tiroler Berge: die bizarre Zackenmauer des Wilden Kaisers und die blinkende Schneepyramide des Großvenedigers. Die Bahn läuft, nachdem sie von der Hochebene in die Alpen eingetreten ist, noch eine Zeitlang auf dem linken, bayerischen Innufer stromaufwärts, während drüben auf dem rechten Ufer unter den waldigen Hängen des Grenzhorns schon das erste Tirolerdorf, Erl, sich zeigt.
Gleich darauf, bei der bayerischen Bahnstation Oberaudorf, erschließt sich nach Osten hin das erste Seitenthal des Innthals: die freundliche Hügellandschaft der Sewi. Es ist offenbar ein vormaliges Seebecken, durch welches der Inn hier seine Fluten träge zwischen Erlenauen hinwälzt. Eine geräumige Mulde zwischen den bis zum Gipfel hinauf grün bematteten bayerisch-tirolischen Grenzgebirgen und dem schrofferen Felsenbau des Wilden Kaisers läßt hier Raum für mehrere Dörfer und zahlreiche Einzelnhöfe. Wer etwa in Oberaudorf dem Bahnzuge entsteigt und sich über den Inn setzen läßt, kommt in eine hügelige Ebene mit wohlhabenden Dörfern und stattlichen Gehöften. Den Mittelpunkt dieser Landschaft bildet das runde liebliche Becken des Walchsees. Nur die finstere Felsenburg des Kaisergebirgs, das im Süden sich aufbaut, mahnt hier daran, daß man sich in einem Hochgebirgslande befindet; sonst sind alle Höhen grün und sanft geschwungen.
Das Thal setzt sich nach Osten fort; aber die Wasser, die vorher zum Inn flossen, suchen sich jetzt einen anderen Weg. Man[S. 77] hat unversehens eine niedrige Wasserscheide überschritten und gelangt in ein von Nord nach Süden führendes Thal. Es ist das der Großache, auch Kitzbühler Ache genannt. Dieser Bergstrom entspringt an der Grenze von Tirol und dem salzburgischen Pinzgau auf der sumpfigen Höhe von Paß Thurn und ergießt sich nach einem Laufe von[S. 78] 70 km in das weite Becken des bayerischen Chiemsees. Wo er am sagenumwehten Engpaß bei Klobenstein das Grenzgebirge durchbricht, ist der östlichste Zugang aus Bayern nach Tirol. Das Großachenthal enthält eine Reihe einsamer waldreicher Landschaften. Von seinem nördlichen Ende im Chiemseebecken zieht es durch das Kalkgebirge bis nach Kitzbühel; von hier aufwärts bis zum Ursprung der Ache durch Thonschiefer. Der nördlichste Tiroler Ort im Großachenthal ist Kössen, ein Straßenknotenpunkt, von wald- und almenreichen Hügeln umgeben. Rauchende Schlote verkünden gewerbliches Leben; sie gehören zu einem großen Eisenhüttenwerk.
Kössen ist ein Knotenpunkt, von welchem fünf Straßen nach verschiedenen Richtungen hin ausstrahlen: nach Norden und Osten zu über die Landesgrenze ins Bayerische; westwärts über Walchsee zum Inn; südlich durch einsame Waldthäler nach Sankt Johann und Kitzbühel. Bleiben wir im Hauptthal der Ache, um ihr Gebiet kennen zu lernen, so nimmt uns zunächst einförmige Landschaft auf; in einer Erstreckung von 10 km finden sich hier nur ein paar Bauernhöfe. Sonst nichts als Wald und abermals Wald. Erst in der Nähe von Erpfendorf wird die Gegend offener. Hier zieht sich eine für den Verkehr von Nordtirol nach den salzburgischen Landen wichtige Thallandschaft nach Osten hin. Bei Waidring gabelt sich dieses Thal; während ein Ast desselben sich nach Süden wendet, wo unter den weißgrauen Steilabstürzen des Loferer Steingebirgs der weltvergessene Pillersee in träumerischer Stille ruht, zieht sich ein anderer Ast nach Osten. Dahin fließen nunmehr auch die Wasser der Strubache. Die Landschaft gewinnt einen mächtigen Zug, den ihr die Abhänge der Loferer Steinberge verleihen. Dieser bedeutende, durch kühne Formen seiner treppenförmig ansteigenden Gipfel ausgezeichnete Gebirgszug bildet den nordwestlichsten Grenzpfeiler Tirols gegen Salzburg und erreicht im Birnhorn eine Höhe von 2634 m. Das[S. 79] Thal der Strubache aber verengt sich zum felsummauerten Paß Strub, in dessen Tiefe eine einsame granitene Säule von jenen blutigen Kämpfen, die einst um den Grenzpaß tobten, Zeugnis gibt.
Von Erpfendorf aufwärts, im Hauptthal der Ache, wird das Gelände offener; die Straße führt nach Sankt Johann „in Tirol“ zum Unterschied von anderen gleichnamigen Orten (Abb. 54). Hier ist ein natürlicher Verkehrsmittelpunkt; Thäler öffnen sich nach vier Seiten; durch zwei derselben zieht der Eisenpfad der Giselabahn. Nach Südosten thut sich ein weiter grünender Thalgrund auf, der von Pramau, durch den in starker Steigung die Bahn aufwärts strebt nach Fieberbrunn und Hochfilzen. Bei letzterem, hart am Fuße des Leoganger Steingebirgs, erreicht sie die Wasserscheide zwischen Inn und Salzach, um in wilder und einsamer Landschaft beim Paß Griesen die salzburgische Grenze zu überschreiten. Im Südwesten von Sankt Johann hat der frühere Reichtum des Thonschiefergebirgs an silberhaltigen Kupfererzen einen merkwürdigen Bergbau entstehen lassen: die Gruben am Röhrerbühl, in denen ein Schacht gegen 1000 m unter die Erdoberfläche hinabstieg, als einer der tiefsten Schächte Europas. Der Metallreichtum, der nach der Sage drei Bauern im Traum erschienen sein soll, ward seit 1540 ausgebeutet, versiegte aber nach hundert Jahren allmählich.
Von Sankt Johann läuft im breiten Achenthal die Giselabahn nach dem anmutig und großartig gelegenen Städtchen Kitzbühel (Abb. 55). Dasselbe ist heute noch der wichtigste Platz im Achenthal, ehedem bedeutender wegen des Handelszugs über die Tauernpässe und nach Italien und wegen des Bergbaues auf Silber- und Kupfererze. Südlich von Kitzbühel zieht das Achenthal noch 14 km aufwärts in das einförmige Thonschiefergebirge und endet in einem Hochmoor bei Paß Thurn an der Grenze des salzburgischen Pinzgau.
Wir wenden uns wieder zurück an den Eingang des Innthals.
In schauerlicher Wildheit bauen sich unmittelbar über Kufstein die Kalkschroffen des Kaisergebirgs empor. Wir durchwandern von Kufstein aus, um in das Innere dieses Bergzuges einzudringen, eine Viertelstunde lang eine kleine grüne Fläche; dann stehen wir an einer schattigen Felsschlucht, durch welche der aus dem Kaiserthale kommende Kaiserbach herabschäumt. Von hier führt kein Fahrweg mehr in das Thal; nur ein treppenartig ansteigender Saumpfad. Sind wir aber eine Viertelstunde auf diesem emporgestiegen, so erschließt sich das Kaiserthal, grün und einsam, nur von sechs Bauernhöfen, den Kaiserhöfen, und von den in der Höhe droben sich sonnenden Almen belebt. So ist das Kaiserthal eine kleine Welt für sich, gegen Norden von der Welt abgeschnitten durch den massiven plateauartigen Aufbau des „Zahmen“ Kaisers; während im Süden der Wilde Kaiser seine lange, viel mächtigere Felsenmauer emportürmt. Die Kaiserhöfe liegen alle auf den schönen Matten der Sonnenseite, die hier, durch lichten Wald unterbrochen, allmählich ansteigen bis zur Hochfläche des Zahmen Kaisers. Immer großartiger und wilder wird die Landschaft, je weiter wir in das Thal eindringen; schroffer und unbezwinglicher erscheinen die gezackten Türme, die im Süden aufragen.
Hinter dem sechsten und letzten Kaiserhofe hört das Thal auf, dauernd bewohnt zu sein. Ein gut gebahnter Steig führt noch 1½ Stunde weiter zu einer reizenden Heimstätte für Alpenwanderer: dem Hinterbärenbad (Abb. 56). Diese Herberge ist nur im Sommer bewirtschaftet, weil sie nur als Standquartier für Bergfahrten dient. Gegen Süden erschließen sich hier jene grauenhaft öden schutterfüllten Felsmulden, aus denen lotrecht die zerrissenen Wände und Türme des Sonnenecks, des Treffauer Kaisers, der Karlspitzen, der Haltspitzen, der Ackerlspitze und Maukspitze sich erheben. Seinen Höhepunkt erreicht das Gebirge in der 2344 m hohen Elmauer Haltspitze. Zu ihr führt ein nur schwindelfreien Kletterern zugänglicher Steig, der an den bedenklichsten Stellen durch Eisenstifte, die man in den Fels getrieben hat, gangbar gemacht ist. Oben auf der schrecklichen Pyramide dieses Hochgipfels heulen die Stürme rüttelnd um einen winzigen Bretterbau, eine Zuflucht für Bergsteiger, die hier etwa von einem Hochgewitter überrascht werden.
Einen sonnigen lachenden Gegensatz zur düsteren Größe des Kaiserthals bildet das Thal von Thiersee, in das westlich von[S. 80] Kufstein aus dem Innthal ein Sträßchen über den Rücken des Thierbergs führt. Die Thierseer Ache fließt aus zahlreichen Bergbächen zusammen, welche teils auf dem Tiroler, teils auf dem bayerischen Grenzgebirge entspringen, und ergießt sich etwas nördlich von Kufstein, bei der bayerischen Bahnstation Kiefersfelden in den Inn. Das Thal hat mehr den Charakter einer Hügellandschaft, als einer Hochgebirgsgegend: üppig grünende, sanft geschwungene Berghänge, die in den höheren Lagen bewaldet sind, klare Bäche und überall stattliche wohlhabende Gehöfte, nicht so nahe aufeinander gerückt, daß sie sich gegenseitig beengen könnten, und doch nahe genug zu allenfallsiger gegenseitiger Hilfeleistung. Man wird kaum eine Gegend in der Welt finden, wo sich die Lichtseiten einer freien unvermischten Bauernbevölkerung unverfälschter beobachten lassen, als in diesem Thierseer Thale. Das Herz der Landschaft ist Vorderthiersee, ein Dorf mit ziemlich zerstreuten Gehöften, in der Nähe des Thiersees, eines stillen, wiesenumrandeten Gewässers, um dessen Ufer die Glocken weidender Kühe und der im Bergwald rauschende Wind eine überaus friedliche Stimmung erklingen lassen (Abb. 57). Das war nicht immer so. Im Jahre 1703, und später wieder 1805 und 1809 zeigten die Thierseer den eindringenden Bayern und Franzosen den ganzen todverachtenden Mut der Tiroler Freiheitskämpfer; und Jakob Sieberer, ein Volksheld aus dem Thierseer Thale, wird rühmlich neben Hofer und Speckbacher genannt. Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Bauern von Thiersee den Musen keineswegs abhold sind. Gesungen wird im Thierseethale, wie in dem benachbarten lebensfrohen Bayerisch-Zell; außerdem haben aber die Thierseer ihr eigenes Theater, einen ansehnlichen Bretterbau, in welchem während der Sommermonate allsonntäglich von bäuerlichen Liebhabern dramatischer Kunst gespielt wird.
Die Bauern von Thiersee besitzen ein so ausgedehntes Gebiet an Bergweiden,[S. 82] daß dasselbe im Sommer nicht bloß ihre eigenen Rinder, sondern auch große von auswärts zugetriebene Herden ernährt. So zieht sich denn während der schönen Jahreszeit ein großer Teil des Lebens der Bevölkerung nach den Almen hinauf. Und die Mädchen von Thiersee, die als Senninnen droben auf den Almen hausen, sind berühmt wegen ihrer Schönheit. Auf diesen Almen kann man neben frohmütigem lachenden und blonden Weibervolk wohl auch jene dunklen rätselhaften Schönheiten sehen, bei deren Anblick man eher vermuten möchte, sie seien verkappte Berggeister. Alle aber verstehen sie’s, ihre hellstimmigen Jauchzer hinüberzusenden über des Landes Grenze zu den benachbarten bayerischen Almen, von wo die übermütige Antwort wiederklingt.
Zwei Ortschaften liegen noch höher droben im Thale: Hinterthiersee und Landl. Westwärts wird es dann ganz einsam und still; die grauen Wände des „Hinteren Sonnwendjochs“ umdüstern die Landschaft. Das einzige Sträßchen, welches das Thal durchzieht, wendet sich nordwärts, um durch waldige Schluchten, in denen noch die Erinnerungen längstvergangener Kämpfe geistern, hinaus nach dem lustigen Bayerisch-Zell zu ziehen, über das der liederreiche Wendelstein sein Felsenhaupt erhebt.
Erst nachdem wir diese, dem Haupteingang Tirols nebenliegenden Gebiete kennen gelernt haben, betrachten wir uns die Eingangspforte selber: das alte Grenzstädtchen Kufstein (1900 Einw.; Abb. 60) mit seiner ragenden Feste. Eingekeilt liegt es zwischen dem Innstrom und den Ausläufern des Kaisergebirges, beherrscht von der auf einem isolierten Felsklotz erbauten Festung. Stadt und Feste waren im früheren Mittelalter bayerischer Besitz; im Jahre 1503 aber, gelegentlich eines bayerischen Erbfolgestreites, gerieten sie in die Hände des Kaisers Max I., der damals eigenhändig seine schwersten Geschütze gegen sie richtete und ihren ungehorsamen, aber tapferen Befehlshaber Pienzenauer enthaupten ließ. Seit jener Zeit gehörte Kufstein zu Tirol. Während des Krieges von 1703 ward es von den Bayern vorübergehend genommen; ebenso[S. 83] wieder 1809. Damals ward es von seiner bayerischen Besatzung mit zäher Tapferkeit gehalten, obwohl der kühne Speckbacher selber seine ganze List und Verwegenheit daran setzte, die Feste zu gewinnen.
Die Lage von Kufstein ist reizend. Das Flachland selber sieht man von hier nicht mehr, wohl aber die tiefe Einsattelung der nördlichen Kalkkette, hinter der es liegt. Im Osten streben die Felsenpfeiler des Kaisergebirges empor; im Westen die klotzige Pyramide des Pentlings; nach Südwesten schweift der Blick weit, weit thalaufwärts, bis zu den im Fernduft verschwindenden Stubaier Fernern.
Von Kufstein aufwärts bis Innsbruck erstreckt sich das Unterinnthal, wohl die wichtigste Lebensader des ganzen Tirolerlandes. Seine Natur steht zwar an Üppigkeit und Freigebigkeit zurück hinter jener des unteren Etschlandes. Aber seine Bevölkerung ist gleichartig und von kraftvollem Schlage (Abb. 58 bis 62), den Bestrebungen der Aufklärung und des Fortschrittes nicht abhold, in lebhafterer Berührung mit dem stammverwandten Deutschland, angeregt von der großen Weltverkehrsader, von der das Thal durchzogen wird. Dabei hat dieses auf seiner breiteren Sohle und den sanfteren seiner Gehänge Raum zwar nicht für größere Städte, wohl aber für wohlhabende kleinere Orte und zahlreiche zerstreute Sitze eines freien Bauernstandes, der mit der Gemütlichkeit und schneidigen Kraft des Altbayern, dem er zunächst verwandt ist, einiges von der geschäftlicheren Gewandtheit des Alemannen verbindet. Ist doch der Typus des Unterinnthalers in Speckbacher zu suchen, dem kühnen und umsichtigen Generalstabschef Andreas Hofers, dem leitenden Geiste des großen Tiroler Volkskrieges. Die Unterinnthaler wären schon für sich allein, mit den Einwohnerschaften ihrer Seitenthäler, ein durchaus charakteristisches fertiges Völkchen, kraftvoll genug, um ein eigenes Staatswesen zu bilden und eine eigene Geschichte zu haben, wie vordem die Bevölkerungen der Schweizer Kantone sie hatten.
Wir setzen unsere Wanderung durch das Innthal, von Kufstein aufwärts, fort. Hat man die Strecke, wo der Innstrom den Zug der nördlichen Kalkalpen quer durchbricht, hinter sich, so verliert das Thal auf eine Länge von fast 20 km seine romantische Größe; seine beiden Umwallungen sind ziemlich einförmige, nicht schärfer charakterisierte Berglinien. Zwei Straßen laufen thalaufwärts, eine rechts und eine links vom Innstrom; zwischen beiden die Bahnlinie. Das Thal, das ziemlich eng erscheint, solange noch von Osten her die Felsenburg des Kaisergebirges hereindroht, erweitert sich allmählich. Seine Südostseite wird zu einer Terrassenlandschaft, welcher die Steinkohlengruben von Häring und die berühmten Cementwerke bei Kirchbichl einen stark industriellen Zug verleihen. Ländlicher ist die nordwestliche Thalwand geblieben. Hier hat sich, auf eine Ausdehnung von etwa 15 km, von Langkampfen bis Brixlegg, zwischen das Strombett und die nordwestliche Thalwand ein Mittelgebirge eingelagert: eine niedrige Trümmerlandschaft, teils bewaldet, teils zu sanften Mulden ausgeweitet, in denen grüne Matten, kleine Waldteiche, Eichengruppen und schöne Bauernhöfe anmutige Landschaftsbilder bieten. Hier liegt auch der berühmte Wallfahrtsort Mariastein in idyllischer Stille. Es ist eine alte Ritterburg, durch ein[S. 84] wunderthätiges Marienbild, welches, mehrmals weggebracht, hartnäckig hierher zurückkehrte, zum Wunderplatze gefeit.
Auf der anderen Thalseite ist es lebhafter. Dort, bei der Station Wörgl, mündet in die Innthaler Bahnlinie, von Osten her kommend, die Giselabahn; das Thal hat sich zu einem breiten Wiesengrunde erweitert. In ihn öffnen sich zwei Thalspalten. Durch die nördliche derselben, das Sölland genannt, führt die wichtige Kaiserstraße unter dem Südabsturz des wilden Kaisers nach Sankt Johann. Dieser Straßenzug bezeichnet die geologische Scheide zwischen dem Kalkgebirge im Norden und dem Thonschiefer im Süden. Wichtiger für den Verkehr ist aber in neuerer Zeit die südlichere dieser Thalspalten geworden: das Brixenthal, durch welches die Giselabahn nach Kitzbühel und weiterhin nach Zell am See und Salzburg führt. Das Brixenthal hat zwar nur eine schmale Sohle, aber geringere Neigung seiner Thalwände, als die meisten anderen Thäler. Prächtige Matten erstrecken sich bis zu den Gipfeln der Berge hinauf, mit unzähligen braunen Heustädeln besetzt. Die Wälder aber sind, wenigstens in den unteren Lagen, schlecht und arg mißhandelt. Das Thal, in welchem die ansehnlichen Ortschaften Hopfgarten und Brixen und, schon jenseits der niedrigen Wasserscheide, Kirchberg liegen, empfängt seine Wasserzuflüsse aus langen einförmigen Seitengründen, die von den Thonschieferbergen im Süden herabziehen. Seine nördliche Vorlage bildet die hohe Salve, eine aussichtsreiche grünbemattete Kuppe, die jedoch, abgesehen von ihrer berühmten Rundsicht, als Berg an sich kein Interesse bietet.
Auf dem nur spärlich bevölkerten und teilweise versumpften rechten Innufer trägt uns die Bahn thalaufwärts nach Kundl. Der Ort soll seinen Namen von der heiligen Kunigunde, der Gemahlin Kaiser Heinrichs II., haben. Sicher ist, daß Kaiser Heinrich im Jahre 1012 die einsam an der Landstraße liegende Sankt Leonhardskirche erbaute. Hier öffnet sich nach Süden zu ein weltfremdes Thal, die Wildschönau, dessen Einwohnerschaft, in merkwürdiger Abgeschlossenheit dahinlebend, alte Sitten und Rechtsbräuche vielleicht am treuesten in ganz Tirol festgehalten hat. Uralte Bergbaue in dem einst erzreichen Gebirge der Wildschönau haben aufgehört; der Name des „Schatzbergs“, der sich 1898 m hoch über der Wildschönau erhebt, kündet noch von dem einstigen Silbersegen.
Reicher und bevölkerter wird das Innthal von Rattenberg aufwärts. Rattenberg selber zwar, das alte Schifferstädtchen (Abb. 63), unter dessen Burgtrümmern die Bahn in einem Tunnel hinzieht, macht mit seinen hart über dem Innstrom hängenden grauen Häusern den Eindruck des Verfalles. Solange[S. 86] die Schiffahrt auf dem Inn in Blüte stand, war hier starker Verkehr; seit die Lokomotive das Innthal durcheilt, hat dies aufgehört. Die bei Rattenberg und dem benachbarten Brixlegg (Abb. 64) von Norden und von Süden ins Innthal mündenden Thäler, das von Brandenberg und das Alpbachthal, haben für den Verkehr keine Bedeutung. Brixlegg selbst, wo sich, in eine Felswand gemeißelt, ein schönes Denkmal des um die Erschließung von Tirol verdienten Schriftstellers Dr. Steub findet, ist eine viel besuchte Sommerfrische; dabei ein kaiserliches Hüttenwerk und die alte Burg „Matzen“.
Von Rattenberg an entfaltet das Unterinnthal seine ganze Pracht. Breit und wohnlich liegt es vor uns da, mit den gigantischen Bergen, die es im Norden einschließen, mit dem Ausblick auf die Stubaier Ferner im Westen, mit seinen Städten, Burgen und Klöstern. Schon bei Brixlegg, auf welches von Norden die breit und charaktervoll vortretende Berggruppe des Sonnwendjochs niederschaut, ragen aus dem Stromthal umbüschte alte Ritterburgen empor. Und dann öffnet sich nach Süden zu eines der schönsten Seitenthäler Tirols: das berggewaltige liederreiche Zillerthal.
Offen und sonnig, bewacht von den riesigen Türmen der alten Feste Kropfsberg, erschließt sich der Eingang dieses Thales. Fünf Stunden lang fährt man auf fast ebener Landstraße thaleinwärts, ohne eine Ahnung von der wilden Größe des Thales zu erhalten, an dessen grüner Sonnenseite man bis hoch hinauf die Gehöfte leuchten sieht. Man fährt durch das freundliche Fügen (Abb. 65), aus dem einst die Sängerfamilie Rainer auszog, um den Tiroler Jodler jenseits des Oceans und in den großen europäischen Hauptstädten erklingen zu lassen und dann, reich an Ruhm und Gold, wieder in ihre Bergheimat zurückzukehren.
Weiter thaleinwärts liegt Zell am Ziller, der Hauptort des Zillerthales (Abb. 66). Näher ist hier schon der gewaltige Thalhintergrund getreten: die Gerloswand, der Tristenspitz und das vergletscherte Ingentkar. Aber immer noch erscheint die Landschaft freundlich und sonnig; um Zell gedeihen noch Weizen und Mais. Die vielen Herbergen,[S. 87] die Häuser der Kleingewerbsleute im Dorfe wie die umliegenden Bauernhöfe zeugen von Wohlhabenheit und Lebensfreude. Davon zeugt aber auch der mächtige Wuchs des Zillerthaler Volkes und seine Freude an Gesang und Zitherspiel, an der Liebe und am Raufen.
Bei Zell fängt das Zillerthal, welches bis hierher ohne nennenswerte Seitenthäler blieb, an, einen anderen Charakter zu gewinnen; die bisher sanft ansteigenden Thalgehänge verwandeln sich in dräuende Steilwände; die ganze Landschaft wird ernster, dunkler. Ein steiles Fahrsträßchen führt am Hainzenberge, dessen Goldgruben jetzt verlassen stehen, vorüber zu dem hochgelegenen Alpendorfe Gerlos und von dort hinab in den salzburgischen Pinzgau. Bleibt man im Zillerthale, so gelangt man nach einstündiger Fahrt in den herrlichen grünen Thalkessel, wo Mayrhofen (Abb. 67) liegt und alles Weitere wie vermauert scheint. In der That ist das eigentliche Zillerthal hier zu Ende, aber seine bedeutendste Hochgebirgsschönheit beginnt erst. Denn das Thal spaltet sich in vier schluchtenartige Gründe, die sich noch viele Stunden weit in das Innerste der Centralalpenkette hinauf erstrecken und aus denen nur beschwerliche, nicht mehr fahrbare Jochsteige weiterführen.
Der östlichste dieser Gründe ist der mit seinen Ausläufern über 20 km lange Zillergrund, dessen letzte Ausläufer sich in den Eiswüsten der Reichenspitzgruppe verlieren. Langwierige und mühsame Jochpfade führen aus diesem nur spärlich bevölkerten Hochthale hinüber in das jenseitige Ahrnthal. Fast völlig unbewohnt ist die ebenfalls bei Mayrhofen mündende Schlucht der Stillup, die in einer Längenerstreckung von 16 km nur mehr ein paar Alpenhütten und ein Jagdhaus herbergt und deren südliches Ende vom Eiskranz der Zillerthaler Hauptkette verschlossen ist.
Am bevölkertsten und wohnlichsten unter diesen Seitengründen ist das von Mayrhofen ostwärts hinaufziehende Tuxer Thal. Mit einer Längenerstreckung von 20 km windet sich dieses in großem Bogen um die eisbedeckte Kette des Tuxer Kammes. Es ist ein prächtiger grüner Alpengrund, der eine Reihe von kleinen Hochgebirgsdörfern mit braunen Holzhäusern enthält. Das höchst gelegene derselben ist Hintertux (Abb. 68), schon 1475 m über dem Meere, überragt vom schönen Eisgebilde der „Gefrorenen Wand“. Das Thal ist arm; von Bodenfrüchten gedeiht nur wenig mehr in solcher Höhe, aber dafür sind die Tuxer doch ein prächtiges, schönes und lebensfrohes Völkchen, das jauchzend und lachend seine mühsame Arbeit und den schweren Transport seiner Molkereiprodukte besorgt. Man rühmt ihnen auch nach, daß sie den reinsten[S. 88] verständlichsten Dialekt im Lande Tirol sprächen. Ein viel begangener Jochsteig führt von Mayrhofen über Hintertux und das Tuxer Joch in das Schmirnthal und an die Brennerstraße.
Das bedeutendste unter den Zweigthälern des Zillerthales ist aber das Zemmthal, das sich von Mayrhofen an in die großartigste Wildnis der Centralalpenkette 25 km lang hinaufzieht. Schon wer hinter Mayrhofen die felsentief eingerissene Zugangsschlucht, durch welche der Zemmbach seine eisigen Fluten wirft, betritt, muß ahnen, welche Züge die Landschaft haben wird, durch die er hier zu wandern hat. Es ist eine ununterbrochene Folge grandioser Hochlandsbilder. Das zwischen dem Tuxer Kamme und dem Zillerthaler Hauptkamm entlang ziehende Zemmthal ist wohl diejenige Landschaft, wo weniger menschliche Ansiedelungen auf gleichem Flächenraume sich finden, als sonst irgendwo in Tirol. Kaum irgendwo sonst sind die Thalwände so steil, die Bergbäche so wild, die in Schluchten verlorene Einsamkeit so düster und groß wie hier. Nur zweimal, bei dem Alpendörfchen Ginzling (Abb. 69), drei Wegstunden hinter Mayrhofen, und abermals zwei Stunden weiter, bei den paar Hütten von Breitlahner, öffnet sich diese gigantische Schluchtenwelt zu kleinen grünen Thalkesseln. Dann gabelt sie sich in zwei Äste. Einer von ihnen, der Zemm- oder Schwarzensteingrund, führt nach Südosten in einen wundervollen Cirkus von eisgepanzerten Felshörnern und zerklüfteten Gletschern. Hier, wo ewige Eisluft weht, auf den höchsten Matten, bietet noch die Berliner Hütte (Abb. 70) einer schaulustigen Schar von Bergfreunden ihre schirmende Unterkunft. Noch höher droben, wo die Eislawinen vom Thurnerkamp und Greiner niederdonnern, oder wo der märchenhafte Schwarzsee zwischen Schneefeldern liegt, sieht man wohl mitunter noch einen verwegenen Edelsteinsucher — Granatenklauber nennt man sie hier —, der mit seinem Hammer an den vielfarbigen Felswänden hinklettert, um nach kostbaren Mineralien zu suchen, die hier in geheimen Spalten[S. 89] und Höhlungen funkeln. — Der südwestliche Zweig des Zemmthales, Zamser Grund genannt, steigt als trümmererfüllte Schlucht von der Wegteilung bei Breitlahner noch vier bis fünf Wegstunden empor, immer höher und wilder. An der gastlichen Dominicushütte und dem Eingange des vergletscherten Schlegeisthales vorüber klettert der Felsensteig empor zu der öden Schuttwüste des Pfitscher Joches, wo bei drei kleinen eisigen Seen noch eine Unterkunftshütte steht. Zu den Füßen des Wanderers liegt der grüne Thalgrund von Pfitsch und weit von Westen her grüßt ihn der Eispalast des Ortlers.
Wir aber kehren zurück an den Eingang des Zillerthales, um die Wanderung durch das Innthal fortzusetzen, dessen nördliche Thalwand immer großartigere Formen gewinnt. Das nächste Seitenthal ist das bei Jenbach (Abb. 71) sich öffnende Thal des Achensees (Abb. 72). In prachtvollem Blau liegt er zwischen dem Gebirgsstocke des Sonnwendjochs und den östlichen Ausläufern der Karwendelketten eingebettet, ein märchenschönes Landschaftsbild, dem allerdings während der Sommermonate der allzu lebhafte, von Zahnradbahn und Dampferfahrt geförderte Fremdenverkehr die Poesie der Einsamkeit genommen hat. Aber er ist trotzdem noch entzückend schön, der träumerische Seewinkel an der Pertisau, wo über der erfrischend plätschernden Seefläche die seltsamen Felshörner des Sonnwendjoches mit ihren grünen Matten aufzacken und im Westen verborgene Steige in die Bergwelt des Karwendelgebirges sich verlieren (Abb. 73)! Der Achensee wirft sein Wasser nicht in den benachbarten Inn. Der Weg dahin ist ihm in unvordenklichen Zeiten durch einen ungeheuren Bergsturz zugeschüttet worden; so ward er gezwungen, sich durch seinen Abfluß, die Walchen, in nordwestlicher Richtung auf bayerisches Gebiet und in die Isar zu wenden.
Wir lassen das fleißige und heitere Jenbach hinter uns und fahren im Innthal weiter. Zur Rechten über der Straße leuchtet Schloß Tratzberg (vgl. Abb. 44 bis 46); weiterhin gähnt die schluchtartige Tiefe des Stallenthales mit dem hochgelegenen Kloster St. Georgenberg; dann zeigt sich auf der Thalsohle das ausgedehnte Gemäuer des reichen Stiftes von Viecht. Und am jenseitigen, südöstlichen Innufer, malerisch[S. 90] auf dem ansteigenden Thalhang hingelagert, das alte Bergstädtchen Schwaz (Abb. 74).
Dieses Städtchen, römischen Ursprunges, hat mannigfache, nicht immer frohe Schicksale gesehen. Als im Jahre 1409 die reichen Silber- und Kupferschätze des Schwazer Erzberges aufgeschlossen wurden, nahm der Ort einen fast beispiellosen Aufschwung. Es gab Zeiten, in denen in den Schwazer Gruben 30000 Bergleute arbeiteten. Diese Schwazer Grubenleute waren weit berühmt; im Jahre 1529 schützten sie als Minengräber Wien gegen die türkischen Belagerer. Eine Zeitlang war Schwaz die reichste Ortschaft in Tirol. Aber der Segen nahm ein trauriges Ende. Religiöse Kämpfe während der Reformationszeit, Pest und Erdbeben, endlich im Jahre 1809 der Einbruch der bayerischen Armee, suchten die unglückliche Stadt heim. Mancher Bau, namentlich die schöne Pfarrkirche, zeugt noch vom einstigen Reichtum. Aber heute sind die Silbergruben erschöpft, nur Eisen- und Kupfergruben noch in Betrieb. Über dem Orte erhebt sich der alte Turm von Freundsberg, das Stammschloß Georgs von Freundsberg, des Siegers in der Schlacht von Pavia. Gegenüber von Schwaz mündet, aus dem Karwendelgebirge herabziehend, das Vomper Thal; es ist das finsterste und wildeste unter den Thälern der nördlichen Kalkalpen, umstarrt von den Riesenwänden der Bettelwurfspitze, Grubenkarspitze und des Hochglück.
Der eilende Bahnzug trägt uns an diesem sonnenlosen Felsschlunde, der wie ein Aufenthalt von Drachen und bösen Geistern blauschattig herübergähnt, vorbei, im offenen Innthale aufwärts. Wieder liegt eine Stadt vor uns, deren schöne alte Türme mit grünem Edelroste bedeckt sind und um deren Mauern, Balkone und lauschige Winkelgärtchen Epheuranken sich schlingen: es ist das freundliche Hall (Abb. 75). Wie in Schwaz Kupfer und Silber, so war es hier das schon im VIII. Jahrhundert aus dem Felsenbauche des Haller Salzberges gewonnene Salz, das der Stadt zu schnellem Ruhm und Reichtum verhalf. Aber zermalmende Schicksalsschläge warfen sich auch auf das schöne Hall. Schon im XIV. Jahrhundert waren die Bürger zu schweren Kämpfen wider die bayerischen Herzöge genötigt; 1447 zerstörte eine Feuersbrunst[S. 91] einen Teil der Stadt. Dann kamen religiöse Zwistigkeiten, wiederholte Pestseuchen, in den Jahren 1670–1672 langdauernde Erderschütterungen. Während des spanischen Erbfolgekrieges ward die von den Bayern besetzte Stadt durch die Tiroler Bauern erstürmt; später wüteten wiederholt schwere Schadenfeuer und endlich der große Krieg von 1809, während dessen Hall dreimal von den Bayern und dreimal von Speckbachers Tirolern erobert ward.
Aber an der schicksalsreichen Stadt werden wir heute im Fluge vorübergetragen. Immer mächtiger steigen vor uns die schneebedeckten Gipfel der Stubaier Alpen empor. Durch eine grünende Aue geht es eilend hin; im Süden zeigen sich auf bewaldeter Höhe die Türme des stolzen Schlosses Ambras (Abb. 76 bis 78); zur Rechten türmt sich über waldigen Vorbergen die weiße Zackenmauer des Solstein empor. Der Schienenweg überschreitet den Inn, und vor uns liegt, in ihren weiten prachtvollen Hochgebirgskessel eingebettet, Innsbruck, die Landeshauptstadt von Tirol (Abb. 79, 80, 82).
Innsbruck, das heute 30000 Einwohner zählt, füllt mit seinen Vorstädten die ganze Breite des Innthales aus. Die günstige geschützte Lage in einer der geräumigsten Weitungen des Innthales, am nördlichen Ausgang eines der gangbarsten Alpenpässe, veranlaßte schon die Römer nach der Eroberung der Alpenprovinzen, hier eine Pflanzstadt, Veldidenum, anzulegen, von der heute noch Stift und Vorstadt Wilten den Namen haben. Schattenhafte Erinnerungen aus römischer Zeit wie aus den Tagen des großen Gotenkönigs Theodorich durchgeistern die Stadt und mit ihnen die Romantik des Mittelalters, getragen durch die Gestalten Friedrichs mit der leeren Tasche, Kaiser Maximilians I., der schönen Philippine Welserin; und dazwischen meint man den Schlachtenlärm aus den Tagen der Reformationskriege, des spanischen Erbfolgekrieges und des großen Tiroler Freiheitskampfes zu vernehmen. Aber all das ist lange vorüber; nur in halb verklungenen Lauten, in schönen Bauten und ehrwürdigen Denkmälern sprechen noch jene Erinnerungen zur Gegenwart,[S. 92] die Innsbruck in eine hübsche, moderne und thätige Stadt verwandelt hat.
Aber man empfindet diesen Zauber voll und ganz, sobald man in das hervorragendste Bauwerk der Stadt eintritt, in die Franziskaner- oder Hofkirche (Abb. 81), deren Inneres vollständig beherrscht wird durch ein weltberühmtes Kunstwerk: das Grabdenkmal Kaiser Maximilians. Wer diesen marmornen Aufbau mit seinen zahlreichen Erztafeln und Erzfiguren betrachtet, erstaunt ebensosehr über die freie, edle und graziöse Erfindung, wie über die vollendete Technik, in der das Grabmal selber und seine 28 überlebensgroßen ehernen Wächter ausgeführt sind.
Außer dem Kaiserdenkmal haben auch die Gräber der Tiroler Freiheitshelden, Andreas Hofers, Speckbachers und Haspingers, eine Stätte in der Hofkirche gefunden. Und treten wir aus ihrer schweigenden Halle hinaus in die sauberen und heiteren Straßen, so sehen wir fast allerwärts über den Enden derselben die riesenhaften Bauwerke emporragen, die hier die Meisterin Natur aufgetürmt hat. Über das „goldene Dachl“, jenen zierlichen Erker mit dem Golddach, den Herzog Friedrich aus Trotz gegen die Spötter seiner Armut erbaute, hängt der Solstein herein und von der stolzen Fensterfront der kaiserlichen Hofburg aus schweift der Blick das weite Innthal hinab in duftige Fernen. Während wir durch die Hauptstraße der Stadt, die Maria-Theresiastraße, wandern, findet unser Auge an der stattlichen Triumphpforte, die zu Ehren der Kaiserin hier errichtet ward, vorübergleitend, den viel umkämpften Iselberg und die schöne Felspyramide der Waldrasterspitze.
Außer der Hofkirche sind sehenswert die Jesuitenkirche mit ihrer bedeutenden Kuppel und Gemälden von Albrecht Dürer und anderen Meistern; die durch Erdbeben verwüstete und dann wieder aufgebaute Pfarrkirche, das alte Kapuzinerkloster mit seinem schönen Garten, das Servitenkloster und andere kirchliche und klösterliche Bauten. Ein schöner Renaissancebau beherbergt die Sammlungen des Landesmuseums; hier[S. 94] sind ansehnliche Schätze von Altertümern, Kunstwerken und Naturgegenständen vereinigt, welche die Natur, die Geschichte und Kultur des Tiroler Landes spiegeln: vorrömische und römische Altertümer, ethnographisch und kulturgeschichtlich wichtige Dinge, Erinnerungen und Trophäen aus den Tiroler Volkskriegen, Handschriften, Bücherschätze, Skulpturen, Modelle und Werke der Kleinkunst, Metallarbeiten und Münzen, Gemälde von älteren und modernen, namentlich Tiroler Meistern; Kupferstiche und Handzeichnungen, sowie Naturaliensammlungen. Wer seine Anschauungen über die Natur des Tirolerlandes vervollständigen will, darf aber auch den Besuch des mehr als 600 Alpenpflanzen enthaltenden botanischen Gartens nicht versäumen, ebensowenig den des Gartens im Pädagogium, wo eine 90 qm große Reliefkarte von Tirol, unter freiem Himmel aus den entsprechenden Gesteinsarten aufgebaut, einen ganz eigenartigen Einblick in die Orographie und Hydrographie des Landes bietet.
Innsbruck ist kaum als Industrie- und Handelsstadt zu bezeichnen. Es ist politischer und geistiger Mittelpunkt eines spärlich bevölkerten und keineswegs reichen Landes und muß als solcher beurteilt werden. An Handelsbedeutung ist ihm Bozen von altersher überlegen. Als Sitz der obersten Landesbehörden, einer achtungswerten Universität und ansehnlicher Garnison drängt es immerhin mannigfache Interessen in sich zusammen, wenn es auch keinerlei bodenständige Großindustrie hat, sondern mit den Produkten seines Kleingewerbes nur die eigene Einwohnerschaft und das benachbarte Nordtirol versorgt. Mit dem lebhaften Fremdenverkehr hängt auch mancherlei Erwerbsthätigkeit zusammen, namentlich das Geschäft der im Sommer oft überfüllten Gasthöfe. So macht die Stadt entschieden den Eindruck des Aufschwungs, zu welchem das Zusammentreffen der wichtigsten Tiroler Bahnlinien am meisten beitragen mochte. Diesen Aufschwung beweisen die vielen stattlichen Neubauten, welche die Stadt in den letzten Jahrzehnten bereicherten, und die Verdoppelung der Bevölkerung, welche sie seit einem Menschenalter erfuhr. Dabei gibt es in Innsbruck keine armen verkommenen Stadtteile, wie sie in anderen Städten von gleicher Volkszahl so oft zu finden sind; das Leben und Treiben der Bevölkerung ist ein behäbiges und gemütliches, zumal in ihr die städtischen und ländlichen Elemente sich reichlich durchdringen. Das zeigt schon ein Blick in die Gassen, in denen zwischen den Trachten der Städter und den schmucken Gestalten der Kaiserjäger sehr zahlreich noch die Gewänder der Landbewohner aus dem oberen und unteren Innthal, aber auch manches Etschländers und Pusterthalers erscheinen (Abb. 83 bis 85).
Von Innsbruck stromaufwärts reicht das Oberinnthal bis zur Schweizer Grenze beim Finstermünzpaß. Wie dieser Thalabschnitt landschaftlich ernster, enger, düsterer ist, als das Unterinnthal, so sind auch seine Bewohner verschlossener, weniger frohmütig und weniger aufgeklärt.
Gleich hinter Innsbruck erweitert sich zwar die Gegend in der Höttinger Au nochmals. Aber dann tritt die Martinswand (Abb. 86), in deren Höhlung ein Kreuz die Stelle weist, wo einst Kaiser Max bei der Gemsjagd sich verstieg, scharf gegen die südliche Thalumwallung vor; und von nun an behält das Thal fortwährend den Charakter düsterer Größe.
Gegenüber der Martinswand erschließt sich nach Süden hin zwischen waldigen Vorbergen das Thal Selrain. Es sind sanft gerundete Glimmerschieferberge, in denen es emporzieht. Nach einigen Stunden, bei dem Dorfe Gries, gabelt sich das Thal und verliert seinen Namen. Ein westlicher Thalast, das Grieser Thal, verästelt sich vielfach; wenig begangene Jochsteige führen aus ihm ins Ötzthal. Ein anderer Ast, das Melachthal, streckt sich direkt nach Süden in die Gletschergebiete der Lisenzer oder Alpeiner Ferner, deren weiße Kämme und Spitzen hinausleuchten bis nach München, von wo sie an klaren Tagen noch sichtbar sind. Über dem prächtigen Eisgebilde des Lisenzer Ferners erhebt der Fernerkogl sein 3300 m hohes Haupt.
Der nächste größere Ort im Innthal aufwärts ist Zirl (Abb. 87), von wo ein wichtiger und alter Straßenzug steil über[S. 96] den Zirler oder Seefelder Berg hinanführt, an den Trümmern von Schloß Fragenstein vorbei auf die Hochfläche von Seefeld. Hierher aber werden wir auf anderem Wege gelangen. Einstweilen lassen wir uns vom Bahnzuge durch das Innthal weitertragen. Dieses scheint sich verflachen zu wollen; die Kette der nördlichen Kalkalpen wird zum Hügelland. Aber es ist bloß eine breite Lücke, die in ihren Zug hier eingerissen ist; bald steigt sie wieder um so trotziger empor, und läßt über dem freundlichen gewerbfleißigen Telfs die „Hohe Munde“ als riesigen kahlen Kalkklotz 2661 m hoch anssteigen. Von Telfs aufwärts ändert sich das Landschaftsbild. Zwischen die Kette der Hochkalkalpen und die tiefe Innfurche hat sich ein niedriges Hügelland, der Achberg, und weiter westlich ein isolierter lang gestreckter Berg, der Tschürgant, eingelagert. Dadurch sind zwei Parallelthäler entstanden: südlich das Innthal und nördlich von ihm die von der Poststraße durchzogene waldige Thalweitung, in welcher die Ortschaften Miemingen, Obsteig, Nassereit und Tarrenz liegen.
Die Bahnlinie bleibt im Innthale. An den südlichen Berghang lehnt sich ein ehrwürdiger, weitläufiger Klosterbau: das Cisterzienser-Stift Stams, das im Jahre 1271 von Elisabeth, der Mutter des letzten Hohenstaufen Konradin, im tiefen Schmerz über den Tod ihres Sohnes gegründet ward. Es ist die letzte Ruhestätte seiner Stifterin und der meisten Fürsten Tirols geworden; hier empfing auch Kaiser Max die Gesandtschaft des Sultans Bajazet, die um die Prinzessin Kunigunde, des Kaisers Schwester, zu werben gekommen war. Von dem uralten Eichenwalde, der einst das Kloster umgab, sind nur noch Reste vorhanden. Weiter stromaufwärts sieht man auf einem Felsenhügel die zerfallenen Mauern der alten Burg Petersberg oder Welfenberg. Und dann, aufwärts von Silz, zieht sich die Bahn durch jenes öde aussichtslose Trümmergebiet, welches den Ausgang des Ötzthales bezeichnet.
Hier müssen wir den Schienenpfad verlassen, um das Ötzthal kennen zu lernen. Es ist das größte Seitenthal des Innthales, von seinem Eingange bei Ötz bis zu seinem Ende auf dem Hochjoch gegen 65 km lang. Eine stundenbreite Schuttlandschaft, mit Moos und breitästigen Kiefern bewachsen, zeigt, welche riesige Trümmermassen von vorgeschichtlichen Gletschern und ungeheuren Fluten aus dem Thale herausgewälzt wurden. Hat man diese Schuttlandschaft hinter sich, so erreicht man eine freundliche Thalweitung, in der das anmutige Dorf Ötz (Abb. 88) sich ausgebreitet hat. Die reiche Vegetation überrascht; man sieht prächtige Nußbäume, Felder mit Mais und Weinreben an den Häusern. Rasch ändert sich die Scenerie hinter Ötz; die Straße windet sich steil über eine Thalstufe, das „Gsteig“, empor, über das die Ötzthaler Ache sich in wildem Sturze niederwirft. Dann erreicht man wieder einen Thalkessel: den von Umhausen. Zur Linken der Straße drängt sich die sagenumgeisterte Engelswand, eine lotrechte Glimmerschiefermasse, dräuend in das Thal hinein. Etwa 5 km lang erstreckt sich dieser Kessel, dessen Bodenfläche durch alte und neuere Schuttströme, welche von den mächtigen und steilen Thalhängen herabgekommen sind, uneben gemacht wird. Am oberen Ende des Kessels liegt das freundliche Dorf Umhausen, schon 1036 m über der Meeresfläche, in dessen Nähe einer der schönsten Wasserfälle Tirols, der Stuibenfall, seine mächtige Wassermasse über eine dunkle Hornblendeschieferwand herabwirft (Abb. 89). Hinter Umhausen verläßt man das Gebiet dieser Gesteinsart und tritt in eine aus verwittertem Gneis geschaffene Landschaft, das sogenannte Maurach. Es ist eine Gegend, die an schauerlicher Wildheit ihresgleichen sucht: eine riesenhafte Moräne aus wild durcheinander geworfenen Blöcken, zwischen brüchigen, weißgrauen Wänden; und über dieses Trümmerfeld wirft die Ache ihre rasenden, zischenden Wirbel. Mühsam bahnt sich die Straße durch diese Wüste. Dann aber gelangen wir plötzlich wieder in einen 7 km langen, prächtig grünen Thalgrund. Es ist der von Längenfeld, berühmt durch seinen ausgedehnten Flachsbau. Diese ganze Gegend duftet unangenehm nach Leinöl; sie liegt schon 1164 m hoch. Abermals folgt eine, wenn auch nicht so düstere Enge; die Straße steigt stark an und leitet uns dann wieder in den grünen Thalkessel von Sölden. Hier sind wir abermals um 240 m höher; noch sehen wir zwar Getreidefelder und[S. 98] Kartoffeläcker; aber hart über ihnen zeigt sich nur mehr ein spärlicher Saum von Wald, über dem die nackten, zerfurchten Felswände, von zahlreichen Gletscherbächen überrauscht, emporragen.
In Sölden (Abb. 90 bis 92), 1401 m über dem Meere, endet die zuletzt schon recht beschwerlich gewordene Fahrstraße; nur Fußsteige führen noch im Thale weiter. Es folgt wieder eine enge und lange Schlucht, in der man höher und höher emporsteigt. Tief, tief unter den Füßen des Wanderers gurgelt und braust die Ache durch lichtlose Schlünde, hoch über sich und gegenüber sieht er brüchige Wände aufragen; mancherlei Gedenktäfelchen am Wege sagen von Unfällen, die vordem hier sich zutrugen. Eine Stunde lang steigt man auf diesem einsamen Steinpfad hinan; dann erschließt sich wieder eine kleine grüne Fläche mit den wenigen Häusern von Zwieselstein.
Hier gabelt sich das Thal. Ein einziger unvergletscherter Steig führt noch in südöstlicher Richtung zum Timblerjoche und über dasselbe ins hinterste Passeier Thal. Sonst läuft das Ötzthal von hier aufwärts nur mehr in eisumschlossene Hochthäler aus. Gerade nach Süden zieht sich der Thalast von Gurgl hinan, wo man bei 1900 m Seehöhe das höchst gelegene Dorf Tirols, Gurgl erreicht (Abb. 93). Grün bemattet ziehen sich noch die Berghänge hinan; aber überall zeigen sich schon zwischen und über ihnen weiße, dick beeiste Hochgipfel. Die Häuser des Dorfes sind arme braune Holzhütten; etwas thaleinwärts sieht man noch einen kleinen dunklen Zirbenhain: die letzten Bäume. Hinter denselben nur mehr einsame Hochgebirgswildnis. Die menschlichen Ansiedelungen haben ein Ende; nur dann und wann erblickt man noch die niedere Steinhütte eines Schafhirten. Im Hintergrunde des Gurgler Thales steigt mit blauen Klüften und Spalten ein 10 km langer Eisstrom, der Gurgler oder Ötzthaler Ferner, in das Thal herab. Seine Zunge verschließt dem benachbarten Langthaler Ferner den Abfluß; letzterer staut sich, und so entsteht alljährlich hier zur Zeit der Schneeschmelze ein 1500 m langer See, der Langthaler Eissee, auch Gurgler Lake genannt. Er ist eines der wunderbarsten Gewässer in der ganzen Alpenwelt, von blauen Eiswänden umgeben, mit seltsam geformten Eisinseln.[S. 100] Alljährlich um die Zeit der Sonnenwende sucht sich die Wassermasse einen Abfluß unter dem Eise des Gurgler Ferners hindurch. So unwirtbar die Landschaft der Gurgler Eiswelt erscheint, führen doch noch Gletscherpässe von hier über das 3050 m hohe Langthaler Joch in das Pfeldersthal und nach Hinterpasseier; und über das Gurgler Joch, 3300 m hoch, ins Schnalser Thal und zum Vintschgau. Mehr begangen ist der Übergang über das aussichtreiche Ramoljoch; aber all diese Eispfade können nur im Sommer, bei gutem Wetter und unter Leitung der tüchtigen Ötzthaler Führer begangen werden.
Eine der berühmtesten Alpenlandschaften ist der westliche Ast des obersten Ötzthales geworden: das Venter Thal. Dieses führt ins Innerste einer ganz großartigen Eiswelt; in einer Längenerstreckung von etwa 26 km enthält es mehr als zwanzig Gletscher. Seine untere Hälfte ist ziemlich einförmig. Der Baumwuchs ist hier fast zu Ende; an steinigen Graslehnen führt der Weg empor zu dem Alpendorfe Vent, 1892 m hoch gelegen. Die letzten Getreidefelder hat man schon zwei Stunden vorher hinter sich gelassen. Nur eine dürftige Ahnung erhält man hier von den riesenhaften Eisgipfeln, welche das Thal umstarren und unter denen die Wildspitze, 3776 m, mit ihrer schlanken Doppelspitze als Königin der Ötzthaler Berge sich aus der prachtvollen Wildnis des Mittelbergferners erhebt.
Gleich hinter Vent, das heutzutage während der Sommerzeit einer der besuchtesten Standplätze für Hochgebirgswanderer ist, spaltet sich das Thal abermals in zwei Äste. Nach Süden steigt das Niederthal hinan in einen mächtigen Eiscirkus, wo die zerklüfteten Eismassen von vier großen Gletschern einen wunderbaren Thalschluß bilden und der vereiste Jochsteig über das Niederjoch ins Schnalser Thal führt. Noch weit ausgedehnter sind die Eislandschaften des südwestlichen Thalastes. In ihm liegen noch, 2004 m hoch, die Höfe von Rofen, die höchsten, dauernd bewohnten Ansiedelungen Tirols, in deren bergumfriedeter Sicherheit einst Herzog Friedrich mit der leeren Tasche schützende Zuflucht fand. Höher und höher steigt der Bergpfad empor über die Moräne des verderbendräuenden Vernagtgletschers, der schon[S. 102] wiederholt mit seinem Eise die von anderen Gletschern herabkommenden Wildwasser zum See aufstaute, der dann, seinen Eisdamm durchbrechend, grauenhafte Verwüstungen im ganzen Ötzthal anrichtete. Und noch eine Stunde zieht der schmale Steig hinan bis zur letzten sommerlichen Zufluchtstätte: dem Hochjochhospiz (Abb. 94), von wo über den breiten Eishang des Hochjochferners ein viel begangener Übergang in das jenseitige Schnalserthal hinüberleitet, während im Westen der lang gedehnte Hintereisferner niedersteigt vom schimmernden Eispalaste der Weißkugel (3776 m), die dort in weltferner Wildnis groß und schweigend erglänzt (Abb. 95).
Wir lenken den Wanderschritt zurück, dahin, wo die Ötzthaler Ache in das Innthal mündet, das nun zur engen Schlucht wird, und suchen uns den Weg in diesem weiter stromaufwärts. Erst bei der Station Imst wird die Landschaft wieder offener; hier münden zwei Thäler. Nach Süden zu zieht sich das Pitzthal, parallel mit dem Ötzthale, zu den Ötzthaler Fernern empor. Zwei Stunden von dem schluchtartigen Thaleingange liegt, noch in wohlangebauter offener Gegend, der Hauptort Wenns. Das Pitzthal weist nicht jene schauerlich wilden Scenerien auf, wie das benachbarte Ötzthal, zeigt auch nicht dessen stufenförmige Absätze, sondern steigt allmählich, aber stetig an. Bei dem letzten bewohnten Hofe, Mittelberg (1733 m, elf Wegstunden von Imst, Abb. 96) wird das Thal durch den riesigen, vielfach zerklüfteten Eiswall des Mittelbergferners abgeschlossen, welcher von den Schultern der Wildspitze niedergeht. Er ist wohl der schönste Gletscher Tirols neben seinem Nachbarn, dem Taschachferner, zu welchem eine westliche Seitenschlucht führt.
Gegenüber der Mündung des Pitzthales dehnt sich eine wohlangebaute Terrassenlandschaft zu den Gehängen der nördlichen Kalkalpen. Hier lagert, eine halbe Stunde vom Inn entfernt, der schöne Markt Imst (Abb. 97), im Mittelalter durch den von Augsburg nach Italien über den Fernpaß führenden Handelsweg reich und blühend[S. 104] geworden. Auch Bergbau ward in der Umgebung getrieben; ein ganz eigentümlicher Industriezweig der Imster wurde die Zucht von Kanarienvögeln, die von hier aus nach allen europäischen Ländern ausgeführt wurden. Die Innthaler- und Brennerbahn ließ den Fernpaß veröden; darunter mußte auch Imst erheblich leiden, nachdem es schon durch die Franzosenkriege und durch einen fürchterlichen Brand im Jahre 1822 fast völlig vernichtet worden war.
Hinter Imst zieht sich die uralte Paßstraße durch ein breites Thal zwischen dem Tschürgant und dem Zuge der Hochkalkalpen aufwärts nach dem romantischen Nassereit (Abb. 98); und von da, an dem prächtigen kleinen Fernsteinsee (Abb. 99), in dessen grünem Gewässer sich die Trümmer der Sigmundsburg spiegeln, vorüber in kühnen Windungen zur Höhe des Fernpasses.
Das Innthal wird von Imst aufwärts wieder breiter und bevölkerter und erweitert sich bei Landeck zu einem prächtigen grünen Thalkessel, in den von Norden her neben ihren bedeutenden Nachbarn die Parseierspitze als stolzeste 3038 m hohe Erhebung der nördlichen Kalkalpen niederschaut, während sich im Westen das Arlbergthal aufthut. Landeck selber (Abb. 100) liegt unmittelbar am Inn, bewacht von der alten, aber noch erhaltenen Feste Landeck.
Von hier müssen wir, ehe wir dem Innthale weiterfolgen, zunächst in die westlichen Gebiete des Paznaun- und Stanzer Thales eindringen.
Von Landeck aus zieht die Arlbergbahn mit einer Reihe kühner Bauten westwärts, indem sie das Innthal verläßt und in das engere Thal der Sanna einbiegt. Wo an der Mündung des Paznaunthales die Sanna aus der Rosanna und Trisanna zusammenfließt, wird die letztere auf einem 86 m hohen, sehr merkwürdigen Viadukt von der Bahn überschritten.
In das Hochthal Paznaun führt von der schönen Arlbergstraße ab ein Sträßchen bis nach Galtür. Nur die unterste Stufe des Thales duldet noch Ackerbau; die oberen Stufen sind bloß Weidelandschaften, aber offen, sonnig und grün. Daher bildet auch die Viehzucht so ziemlich den einzigen Erwerb der außerdem zu mancherlei Wandererwerb[S. 106] genötigten Bevölkerung. Die oberen südwärts sich abzweigenden Seitenschluchten des Paznaunthales, das Timberthal, Larainthal, Jamthal und Vermuntthal steigen in die Region des ewigen Eises empor; sie sind umschlossen von den wild zerzackten Glimmerschieferhörnern und Gneiswänden der Silvrettagruppe (Abb. 2) oder Jamthaler Ferner, und von deren ausgedehnten Firnfeldern und Gletschern. Durch diese Thäler steigt man empor zu den Hochgipfeln des Piz Linard (3414 m), des Verstanklahorns (3301 m), des Piz Buin (3312 m) und des lange wegen seiner Gefahren berüchtigt gewesenen Fluchthorns (3408 m). Westwärts führen aus dem obersten Paznaun viel begangene Pässe über das Zeynesjoch und durch die Vermuntthäler nach Montafun; südlich kann man über dick vereiste Kämme nach dem schweizerischen Engadin oder dem Prättigau gelangen.
Im Parallelthal von Paznaun, dem Stanzer Thale, läuft neben der alten Poststraße her eine der schönsten und vielgestaltigsten Strecken der Alpenbahnen, zum Arlberge. Sie hat im Norden die schön geformten Gipfel der Hochkalkalpen, im Süden die aus krystallinischen Schiefern bestehenden zerrissenen Berggestalten der Fervallgruppe, deren kleine steile Gletscher fast über die Bahn hereinhangen und die in der Kuchenspitze (3170 m) kulminiert. Mehrmals den durch das Thal herabschäumenden Gletscherstrom, die Rosanna, überschreitend, erreicht die Bahnlinie über Flirsch, Pettneu und Sankt Jakob (Abb. 101) das letzte Dorf des Rosannathales, Sankt Anton (1302 m, Abb. 102). Für den Eisenbahnreisenden ist hier Tirol zu Ende; er fährt in den 10 km langen Arlbergtunnel ein und verläßt denselben erst wieder jenseits der Wasserscheide, in Vorarlberg.
Für den Bergwanderer erschließen sich von Sankt Anton aus das Moos- und das Fervallthal, letzteres nochmals gespalten durch den stolzen Felsenobelisk der eisgepanzerten Patteriolspitze. Beide Thäler erstrecken sich ins Innerste der Fervallgruppe. Die alte Poststraße aus Tirol nach Vorarlberg aber zieht sich über dem[S. 108] Tunnel noch hoch empor in eine grüne Thalmulde, wo, überragt von grauen kahlen Kalkzinnen, das Hospiz Sankt Christoph liegt. Dasselbe verdankt seine Entstehung einem armen Hirtenknaben. Dieser, Heinrich das Findelkind genannt, stand im XIV. Jahrhundert als Hirt im Dienste eines Stanzer Bauern; tief ergriffen durch die Unfälle, die sich während des Winters auf dem Arlbergwege so häufig zutrugen, erbettelte er sich die Mittel zur Erbauung einer Schutzherberge, aus der das jetzige Hospiz hervorgegangen ist. Von diesem zieht sich die Straße noch einige Minuten empor und erreicht in dem dürren Hochthale des Arlberges bei 1802 m Seehöhe die Wasserscheide zwischen der Donau und dem Rhein. Heutzutage ist die einst so wichtige Straße unbeschreiblich einsam; der große Verkehr donnert und dröhnt weit unter ihr durch die Felsenhöhlung, die moderne Technik ihm durch den Paß gebohrt hat.
Wir wandern nun in der Tiefe des Innthales weiter, um eine der prachtvollsten Alpenstraßen kennen zu lernen: die von Landeck nach dem Reschen-Scheideck. Zwei Stunden hinter Landeck durchbricht der Innstrom eine einsame Felsenenge; hier[S. 109] spannt sich über ihn die berühmte Pontlatzer Brücke, um die in den Jahren 1703 und 1809 die erbittertsten Kämpfe zwischen Tirolern und Bayern gefochten wurden. Damals wiederhallten die braunen Felswände von Schüssen und der Strom wälzte die blutigen Toten thalabwärts. Bald erweitert sich das Thal wieder. Hoch droben an der westlichen Thalwand liegen die Trümmer der Burg Laudeck; noch höher die heilkräftigen Quellen des viel besuchten Bades Obladis. In der Thaltiefe vor uns aber zeigt sich das Dorf Prutz, am Eingange des Kaunser Thales. Dieses zieht sich erst zwei Stunden weit nach Osten, dann sechs Wegstunden lang, parallel[S. 110] mit dem Ötz- und Pitzthale, nach Süden, in die Eispaläste der Ötzthaler Ferner hinauf. Die Bevölkerung des Thales lebt in vielen zerstreuten Gehöften; Bannwälder an den steilen Gehängen gewähren ihr nur einen spärlichen Schutz gegen die in diesem Thale besonders häufigen Lawinen. Getreidebau und Ansiedelung enden bei den Häusern von See. Das Ende des Thales wird beherrscht von der größten Gletschermasse Tirols, dem 11 km langen Gepatschferner. So ausgedehnt diese Eiswüste ist, führen doch nach allen Richtungen Gletschersteige über sie hinweg.
Die Oberinnthaler Straße bleibt noch in der Tiefe am Inn bis zum Dorfe Pfunds, wo das kurze Radurschelthal sich nach Südosten hin abzweigt. Dann überschreitet sie den Strom und steigt an den lotrechten Schieferwänden höher und höher empor, mehrfach mittels Tunnels den Fels durchbrechend. Immer großartiger wird die Landschaft, immer gewaltiger der Abgrund an der Seite der Straße, bis bei dem Gasthause von Hoch-Finstermünz (1106 m) der schönste Punkt des Straßenzuges erreicht wird. In schwindelnder Tiefe sieht man hier unter sich den grauen Turm des Passes von Alt-Finstermünz; und nach Südwesten gleitet der Blick hinein in die geheimnisvolle waldumrauschte Ferne des schweizerischen Engadin (s. Abb. 3).
Hier verlassen wir den Inn. Unsere Kunststraße windet sich durch eine enge Schlucht empor, an einer kleinen Bergfestung vorüber und erreicht in großen Schlangenwindungen das Dorf Nauders (1362 m) mit der alten Burg Naudersberg. Das Dorf, das 1880 durch einen Brand völlig verwüstet ward, liegt fast an der Grenze des Getreidebaus; auf seinem kleinen Hauptplatze tummeln sich die österreichischen und schweizerischen Postwagen; denn eine musterhafte Kunststraße führt von hier in mannigfachen Windungen einen Bergrücken hinauf zur nahen Schweizergrenze und von dort hinab nach Martinsbruck im Engadin.
Die flache Einsenkung, in welcher Nauders liegt, zieht sich mit fast unmerklicher Steigung noch anderthalb Stunden aufwärts zur Paßhöhe von Reschen-Scheideck (1494 m, Abb. 103). Hier müssen wir unsere Wanderung unterbrechen; denn was wir vor uns sehen, ist der Vintschgau — Südtirol. Das zu schildern gehört späteren Blättern an. Wir haben hier noch eines Grenzgebiets zu gedenken, das sich als nördliche Vorlage des Innthales nach Bayern zu abdacht.
Zwei bayerische Bergströme, die Isar mit ihrem Zufluß, der Loisach, und der Lech, empfangen ihre größten Wassermengen aus Quellbächen, die in Tirol entspringen. Auch diese kleinen Stromgebiete sind des Durchwanderns wert.
Das Tiroler Stromgebiet der Isar reicht vom Achensee im Osten bis westwärts zum obersten Leutaschthale. Es gehört durchaus der Zone der Hochkalkalpen an. Ihren östlichsten Zufluß aus Tirol erhält die Isar in der Walchen, die aus dem Nordende des Achensees fließt, und durch einsame Waldthäler ihren Weg sucht. Höher aufwärts nimmt die Isar einen anderen Quellfluß auf: die Riß. Das Thal der Riß, nur in seinem untersten Verlauf zu Bayern, sonst zu Tirol gehörend, ist wohl[S. 112] das ödeste unter allen Thälern Tirols, da es bei einer Längenerstreckung von ungefähr 25 km nur ein paar Jagdschlösser und Unterkunftshäuser, außerdem bloß Alm- und Jagdhütten und ein kleines Franziskanerklösterchen enthält. Das Ganze ist eine prachtvolle Hochgebirgslandschaft, ein riesiges und sorgsam gehegtes Jagdgebiet, auf dessen grüne Matten (vgl. Abb. 73) und schöne Waldbestände in schauerlichen Felsabstürzen die zerrissenen Hochgipfel des Karwendelgebirges herniederdrohen.
Im Isarthal selbst betritt man, vom letzten bayerischen Orte Mittenwald aufwärts wandernd, den Boden von Tirol beim Felsenpaß von Scharnitz, einem uralten und viel umkämpften Eingangsthor von Norden her. In Römertagen hieß der Paß Scarbia; Herzogin Claudia von Tirol legte hier umfangreiche Festungswerke an, die jetzt in Trümmern liegen. In und bei der kleinen Ortschaft Scharnitz fließen verschiedene Quellbäche der Isar zusammen; nach Osten öffnen sich hier unbewohnte, in großartige Waldgefilde und Steinwüsten hinaufziehende Hochthäler: das Karwendel-, Hinterau- und Gleirschthal. Im Hinterauthal entspringt die Isar auf den grünen Matten des Hallerangers. Die alte Völker- und Heerstraße zieht von Scharnitz in einsamer Waldlandschaft noch hinan bis zum Sattel von Seefeld, wo die Wasserscheide zwischen Isar und Inn liegt, und dann hinab über den Zirler Berg ins Innthal. Seefeld liegt auf einer kleinen aussichtsreichen Hochebene (1176 m). Seitenwege führen von hier in das große tirolische Leutaschthal, ein prächtiges, weites, waldreiches, von zwei Ortschaften bevölkertes Thal, das im Norden von der Wettersteinkette, im Südwesten von turmartigen Felskolossen der Mieminger Kette eingerahmt ist und dessen Wasser bei Mittenwald in die Isar fließen.
Der bedeutendste Zufluß, den die Isar empfängt, die Loisach, kommt ebenfalls aus Tirol. Sie fließt aus drei Quellbächen zusammen in dem großartigen Thalkessel von Lermoos (Abb. 104), über dem in furchtbaren Steilwänden die Westfront der[S. 114] Zugspitze abbricht. Zauberhaft schöne kleine Seespiegel, der Seebensee, Drachensee, Weißensee und Blindsee, schmücken die Umgebung von Lermoos; zwischen den letztgenannten hindurch schlängelt sich der altehrwürdige Straßenzug langsam ansteigend zum Fernpaß. Es ist landschaftlich der schönste Zugang aus dem Norden nach Tirol, reich an mannigfaltigen und wechselnden Bildern. Die einsame Höhe des Fernpasses umwehen Sagen und die trauernden Erinnerungen an König Ludwig II. von Bayern, der sich in dem südlich des Passes gelegenen Schloß Fernstein eine Stätte stiller Träumerei schuf.
Noch ein Gebiet von Nordtirol, ebenfalls dem Innthal nördlich vorgelagert, wollen wir flüchtig durchstreifen: das des Lechstromes. Bald hinter dem bayerischen Grenzstädtchen Füssen erreicht man, am Lech aufwärts wandernd, die Tiroler Grenze und nach ein paar Stunden den schönen Marktflecken Reutte (Abb. 106). Hier gehen nach mehreren Richtungen Straßenzüge auseinander. Nach Osten zu öffnet sich das Seitenthal des stillen, waldumrauschten Plansees (Abb. 105). Nach Südosten zieht am romantischen Trümmerwerk der alten Feste Ehrenberg und der Ehrenberger Klause vorüber die Straße nach Lermoos und zum Fernpaß. Gewaltige Schatten der Weltgeschichte hausen in diesen Trümmern, wo einst der Gotenkönig Theoderich Burg und Gerichtssitz begründet hatte. Während des schmalkaldischen Krieges nahm Schärtlein von Burtenbach die Feste; die Tiroler gewannen sie wieder. Zäh hielt sie sich gegen Kurfürst Moritz von Sachsen und im dreißigjährigen Kriege gegen Bernhard von Weimar und Wrangel. Erst im spanischen Erbfolgekriege ward sie wieder von bayerischen Truppen genommen, konnte aber nicht gehalten werden. Jetzt stehen die Trümmer, von Moos überwuchert, neben und über der Straße.
Das Lechthal wendet sich bei Reutte nach Südwesten. Der nächste Ort ist Weißenbach, wo sich gegen Südosten die abgelegenen Gründe des Rotlechthales aufthun, während nach Nordwesten hin der schmale Schluchtenweg von Paß Gacht in das offene, bevölkerte Thaunheimer Thal hinüberführt. Durch dieses fließt in großen Windungen die Vils, um sich, noch innerhalb Tirols, unweit von Füssen in den Lech zu werfen. Das Thal des Lech dagegen wird oberhalb Weißenbach still und öde; erst von der Mündung des von Westen her kommenden Hornthales aufwärts zeigen sich wieder häufigere Ansiedelungen; aber zur freundlichen, anmutigen Landschaft wird das Thal erst bei Elbigenalp. Höher und[S. 115] mächtiger wird die Umwallung des Thales: im Norden die Allgäuer Berge, im Süden die hohen Kalkschroffen, die hier die Wasserscheide bilden zwischen Lech und Inn und zu denen kurze, wilde Querthäler hinanziehen. Bei dem Dorfe Holzgau erreicht man den oberen Teil des Lechthales, bei Steg den höchst gelegenen Ort. Hier endet die Fahrstraße; aber das Thal zieht sich noch fünf Stunden weit gegen Westen hinan; aus seinen Seitenschluchten führen Jochsteige nördlich in das bayerische Allgäu, nordwestlich in den Bregenzer Wald, südlich zur Arlbergstraße.
Das ganze Lechthal bietet trotz seiner ansehnlichen Ausdehnung dem Fleiße seiner Einwohner nur spärlichen Spielraum; das Klima ist rauh, die anbaufähigen Flächen gering. Die intelligente alemannische Bevölkerung aber ist durch Sparsamkeit und Handelsgeist dennoch wohlhabend geworden.
Das Ländchen Vorarlberg gehört politisch zu Tirol; geographisch und ethnographisch hat es mehr Verwandtschaft mit der benachbarten Schweiz. Denn seine Abdachung geht nach Westen; seine Wasser fließen zum Bodensee; von diesem aus ist die alemannische Bevölkerung in die Thäler hinaufgewandert und hat die keltische und rhätische Urbevölkerung zurückgedrängt. Römische Kultur hat im Vorarlbergischen festeren Fuß gefaßt als im übrigen Tirol.
Scharf abgegrenzt ist das Ländchen gegen Westen durch den Rhein, gegen Süden durch die hohe Kalkkette des Rhätikon, die es vom schweizerischen Prättigau scheidet. Die Nordgrenze Vorarlbergs gegen Bayern läuft durch die sanfteren Höhenzüge des Bregenzer Waldes; im Osten wird es durch die hohen Allgäuer und Arlberger Kalkgebirge von Bayern und Nordtirol, im Südosten durch die Samnaungruppe und die Silvrettagruppe von Tirol und der Schweiz geschieden. Das Klima ist milder als in Nordtirol, die anbaufähigen Bodenflächen verhältnismäßig ausgedehnter. Dies und angeborene Wirtschaftlichkeit haben bewirkt, daß Vorarlberg unter den österreichischen Alpenländern eine ausgezeichnete Stellung in Bezug auf Bodenanbau[S. 116] und Industrie sich erwarb, eine Stellung, die durch die günstigen Verkehrsverhältnisse nur noch gesteigert werden konnte. Durch die wichtige Spalte des Arlbergthales wird das Ländchen in eine nördliche und eine südliche Hälfte geschieden; die erstere ist wohnlicher, bevölkerter; die letztere durchaus großartige Hochgebirgslandschaft.
Wir betreten Vorarlberg vom Verdeck des schönen Dampfers aus, der uns bei[S. 117] Bregenz in den Hafen gebracht hat. Hinter uns liegt der Bodensee mit seiner nach Westen zu scheinbar uferlosen Fläche. So klein Bregenz (Abb. 107 u. 108), zwischen dem Seeufer und den rot schimmernden Felswänden des Pfänder hingelagert, auch ist, besteht es doch aus drei Städten: einer modernen am See, wo die Schlote der Dampfer und der Lokomotiven qualmen, einer mittelalterlichen auf der Anhöhe, wo zwischen grauen Mauern und Thoren traumhafte Stille liegt, und einer uralten aus römischer Zeit, die unter dem Erdboden versunken ist und von den Römern Brigantia genannt ward.
Nach den Stürmen der Völkerwanderung erscheint die Stadt im Besitze der Grafen von Bregenz, später in dem des mächtigen Geschlechtes der Grafen von Montfort. Während des dreißigjährigen Krieges ward es von den Schweden erobert, die damals sogar eine kleine Kriegsflotte auf dem Bodensee unterhielten. Mannigfache Reste aus der Römerzeit werden im Vorarlberger Landesmuseum zu Bregenz aufbewahrt.
Der schöne Pfänderberg, der sich, 1064 m hoch, unmittelbar über Bregenz erhebt, ist der nordwestliche Eckpfeiler des Bregenzer Waldes. Aus diesem strömt in viel gewundenem Laufe die Bregenzer Ache hervor und ergießt sich, eine halbe Stunde westlich von Bregenz, in den Bodensee. Der Bregenzerwald ist in seiner nördlichen, gegen das Flachland vorgeschobenen Hälfte, eine eigentümliche, mehr als ein Mittelgebirge wie als Alpengegend erscheinende Landschaft: lang gestreckte, aus Molasse, Sandstein und Kreide aufgebaute, zu Hochebenen abgeplattete Hügel, in denen die Zuflüsse der Bregenzer Ache schmale Gräben sich eingewühlt haben. Dieser Teil, auch der Vordere oder Äußere Bregenzerwald, ist dicht bevölkert und wohl angebaut. Südlicher erhebt sich die Kreideformation zu höheren, oft steil abfallenden Bergen und steigt noch südlicher als Innerer Bregenzerwald zu den Hochkalkalpen hinan. Im Äußeren Walde liegen die Ansiedelungen meist auf der Höhe der abgeplatteten Hügel, im Inneren drängen sie sich in den[S. 118] Thalweitungen zusammen. Den ganzen Bregenzerwald schmücken prächtige Forsten und Alpenmatten; seine thätige und wohlhabende Bevölkerung treibt eifrig Viehzucht und Holzgeschäft, daneben auch Weberei, die Weiber (Abb. 109) Stickerei. Der Haupteingang in den Bregenzerwald führt nicht durch das enge Thal der Ache, sondern von Schwarzach über die Bergrücken. Der letzte Ort im Thale der Ache ist das hoch gelegene „Schrecken“ (1260 m), von wo noch Jochsteige über das Gebirge nach dem bayerischen Allgäu, nach dem tirolischen Lechthal und nach der Arlbergstraße führen.
Ein mächtiges, 15 km breites Delta haben sich der Rhein und die Bregenzer Ache bei ihrer Mündung in den Bodensee geschaffen. Höher aufwärts wird das Rheinthal zwar schmaler, behält aber bis Feldkirch immer noch eine Breite von 8–10 km. An den beiderseitigen Thalhängen, dem österreichischen wie dem schweizerischen,[S. 119] laufen Bahnlinien thaleinwärts; zwischen ihnen sucht sich der Rhein in der weiten Thalebene mit großen Windungen seinen Weg.
Wenn wir auf der Vorarlberger Bahnlinie Bregenz verlassen, überschreiten wir bald die Bregenzer Ache und gelangen bei Lautrach, von wo eine Verbindungsbahn über Sankt Margareten nach Rorschach führt, ins Rheinthal, welches hier schon einen großen landschaftlichen Zug hat. Weit über die fruchtbare Thalniederung sieht man die teils bematteten, teils felsig kahlen Hänge der schweizerischen Thalseite, mit ihren fernen Ortschaften; hoch über ihnen im Südwesten die steil aufgerichteten Appenzeller Berge: Kamor und Säntis, und die zackigen Churfirsten. Höher aufwärts im Thale sieht man inselgleich waldige Felshöhen aufragen; manchmal tritt auch von der östlichen oder westlichen Thalwand ein steiler Vorsprung ins Thal heraus, der eine weithin schimmernde Wallfahrtskirche oder eine Ruine mit klangvollem Namen trägt.
Über Schwarzach, wo die Hauptstraße in den Bregenzerwald nach Osten hinaufführt, gelangen wir nach dem lang gestreckten, gewerbsfleißigen Dornbirn. Mit 9800 Einwohnern ist es der größte Ort Vorarlbergs, überaus thätig in Spinnerei, Weberei, Färberei. Auch Metall- und Holzindustrie ist hier vertreten. Auch von hier führt eine Straße in den Bregenzerwald. Bald hinter Dornbirn zeigt sich eine Ortschaft, die am Fuße eines mächtigen, lotrecht abfallenden Felsklotzes liegt. Es ist Hohenems; und auf dem Felsen droben sonnen sich die Trümmer der alten Burg Hohenems. Sie war der Stammsitz der Grafen von Hohenems, eines feudalen Geschlechts, das wie kaum ein zweites seinen Namen in die Ritterabenteuer und Schlachtengeschichten des Mittelalters eingezeichnet hat. Hinter Hohenems scheint das Thal bei Götzis sich verengen zu wollen; aber es ist nur ein Ausläufer der östlichen Thalwand, der sich hier wie eine Insel weit nach Westen vorschiebt, in vorgeschichtlicher Zeit vielleicht von den Wellen des Bodensees bespült, wie die Sage meldet. Um den Westabfall dieser Insel, des Kummenberges (663 m), rauscht der Rhein; aber auch auf seinem anderen Ufer steht solch’ ein verengender Inselberg. An den alten Schlössern Neuburg und Montfort vorüber zieht die Bahn, dann am gewerbfleißigen Rankweil vorbei, das äußerst anmutig an der Mündung des vom Bregenzerwalde[S. 120] niedersteigenden Laternser Thales liegt. Hinter Rankweil zeigen sich wieder Inseln in der Rheinebene: der Ardetzenberg und der Schellenberg. Wo die von Südosten aus dem Gebirge herabschäumende Ill mit ihren Gletscherwassern den Ardetzenberg, der sich ihr entgegenstellt, durchbrochen hat, liegt das Städtchen Feldkirch im Mittelpunkte von vier natürlichen Hohlgassen.
Feldkirch, durch die Natur zur Festung gemacht, ist ein hübsches Städtchen mit 3600 Einwohnern und mancherlei alten Bauwerken, einer schönen gotischen Pfarrkirche, einem alten Bürgerspital und Ritterhause und einem berühmten Jesuitenstift. Industriell ist es nicht in dem Grade wie andere Orte Vorarlbergs. Im Laufe der Geschichte ist dieser „Schlüssel von Tirol“ vielfach umkämpft worden, und seine Lage als Grenzstadt und am Zugang zu einer wichtigen Alpenbahn sichert ihm dauernde Bedeutung (Abb. 110).
Bei Feldkirch mündet von Südosten her das Illthal. In seinem unteren Teile ist es, bis Bludenz aufwärts, breit und wohlangebaut und führt hier den Namen Wallgau. Zwischen Rebenhügeln und freundlichen Dörfern liegen alte zertrümmerte Burgen, aber auch die vielfenstrigen Burgen moderner Großindustrie: Baumwollspinnereien, Türkischrotfärbereien, Webereien, Kattundruckereien. Unbewohnte Thäler ziehen südlich aufwärts in die Hochalpenregionen der Rhätikonkette; im Hauptthal aber steigt die Arlbergbahn allmählich empor. Ein wichtiges Seitenthal ist das aus den Hochkalkalpen, die das oberste Lechthal umsäumen, herabkommende Walserthal, wo einst der heilige Gerold Christentum und Kultur in die jungfräuliche Wildnis trug. Jetzt arbeiten an seinem Eingange große Baumwollpaläste.
Hauptort des Illthales ist Bludenz, schön gelegen, mit 3300 Einwohnern. Es war eine alte Ansiedelung schon zu Kaiser Ottos I. Tagen (Abb. 111). Auch hier schauen sich alte Burgtrümmer und moderne Fabrikschlote seltsam an. Durch das benachbarte[S. 121] Brandnerthal führt ein Steig in die Wildnisse des Rhätikongebirges empor, das, aus Kalk und Schiefer aufgebaut, kühne und eigenartige Berggestalten aufweist, deren stolzeste, die Scesaplana, ihr 2969 m hohes Felsenhaupt aus einem Gletscher erhebt und hinunterschaut auf den romantischen Spiegel des Lünersees (Abb. 112).
Bei Bludenz spaltet sich das Illthal. Sein nach Osten hinziehender Ast heißt nun das Klosterthal. In ihm steigt die Arlbergbahn empor, höher und höher, auf zahllosen Viadukten und durch viele Tunnels an der nördlichen Thalwand. In der Station Dalaas hat sie schon eine Höhe von 931 m erklettert; weit blickt der Reisende hier, rückwärts schauend, bis zum Säntis. Und immer höher klettert der erstaunliche Bau am schwindelnden Abgrund, bis zur Station Langen (1217 m). Hier verläßt die Bahn das einsam und rauh gewordene Klosterthal. Sie tritt in den 10240 m langen Arlbergtunnel ein, um jenseits der Wasserscheide, im Stromgebiet des Inn, wieder zum Vorschein zu kommen. Die alte Arlbergstraße dagegen windet sich aufwärts zu einem letzten kleinen Dorfe und dann zu der rauhen, öden Paßhöhe des Arlberges.
Hierher aber sind wir schon von Osten, aus dem Oberinnthal, angestiegen.
Das Hauptthal der Ill, von Bludenz aufwärts Montafun (Montavon) genannt, strebt in südöstlicher Richtung empor zu den Gletschern und Hochgipfeln der Silvrettagruppe. 40 km lang, mit mildem Klima, prächtigen Matten und Wäldern, ist es die Heimat einer freien Bauernschaft, die keine Zwingburgen duldete. Nur der unterste Teil des Thales gehört noch dem Kalkgebirge an; höher oben beginnen Schiefergesteine. Kurze, steile Seitenthäler ziehen in südlicher Richtung zu den Zackengipfeln der Rhätikongruppe hinauf; durch einige führen Jochsteige nach dem schweizerischen Prättigau. Hauptort des Montafun ist Schruns, ein stattliches, in den Sommermonaten von Städtern viel besuchtes Dorf, berühmt durch seine mächtigen Kirschbäume (Abb. 113 u. 114). Hier öffnet sich gegen Osten das[S. 122] gewundene, einst erzreiche Silberthal, mit Jochpfaden zum Arlberge, überragt von der schneidigen Patteriolspitze. Von Schruns aufwärts liegen im Thal noch die Orte Gallenkirch, Gaschurn und als letztes Dorf Patenen oder Parthennen. Hier beginnt die Almenregion. Nach Osten führt ein Steig über das viel begangene Zeinisjoch nach dem obersten Paznaun; das Illthal selber zieht in südlicher Richtung noch ansteigend fort bis zum großen Vermuntgletscher, aus dessen Eisschlünden die Ill hervorströmt. Von hier führen vergletscherte Jochpfade zum Prättigau und in das felsumschattete Engadin.
Der oberste Thalgrund der Etsch ist der Vintschgau. Hier liegt auf der Paßhöhe des Reschen-Scheidecks der grüne Reschensee, aus dem die Etsch abfließt (Abb. 103). Das armselige Dörfchen Reschen am Nordende des Sees bezeichnet die Wasserscheide zwischen Inn und Etsch. Rauh und großartig ist die Landschaft hier oben. Bei dem Dorfe Graun, das ebenfalls noch am Reschensee liegt, öffnet sich ostwärts das Thal Langtaufers. Ein wilder Gletscherbach strömt aus ihm hervor; er ist der Abfluß des mächtigen Langtauferer Ferners, der im Hintergrunde des Thales herabsteigt, umstarrt von den eisigen Höhen der Weißseespitze, Vernagtwand, Weißkugel und Freibrunner Spitze. Aus dem Langtauferer Thale und seinen grünen Matten führen selten begangene Jochsteige und Gletscherpässe hinüber in die Nachbarthäler, nach Radurschel, ins Kaunserthal und ins Ötzthal. Unter diesen Pässen ist das Weißseejoch in der Kriegsgeschichte berühmt geworden dadurch, daß es 1799 vom österreichischen General Laudon mit einer Heeresabteilung überschritten ward.
Der Langtauferer Bach wirft sich in einen zweiten kleinen See, den Mittersee, über welchem man im Süden die eisgepanzerte Berggestalt des Ortlers aufragen sieht. Am südlichen Ende dieses Sees liegen die alten Häuser von „Sankt Valentin auf der Heide“. Dies ist einer der eigenartigsten Plätze in Tirol, eine Landschaft, in den größten kühnsten Zügen gezeichnet.[S. 124] Im XII. Jahrhundert ward hier ein Hospiz begründet zur Aufnahme von hilfsbedürftigen Wanderern. Hier beginnt die berühmte Malser Heide. Noch liegt ein dritter See auf der Höhe, der Heidersee; dann senkt sich die Heide wie ein mächtiges Dach thalabwärts; ihr oberes Ende liegt um 400 m höher als das untere. Diese Heide ist ein riesiger Schuttkegel, gebildet durch Schlammströme, die aus den östlichen Seitenthälern Plawen und Planail einst hervordrangen. Über sie zieht in vielen Windungen die prächtige Jochstraße herab. Wer über die Heide herabsteigt, den grüßt von felsiger Höhe, am Westhang des Gebirges gelegen, das Benediktinerstift Marienberg. Es ist eine altehrwürdige Abtei, in deren Geschichte aber ein blutiger Griffel schrieb; denn im Jahre 1304 ward das Kloster von seinem eigenen Schirmvogt, einem der wilden Ritter von Matsch, überfallen und sein Abt erschlagen. Den Mörder fand man nachmals ermordet und verscharrte ihn in ungeweihter Erde.
Tiefer und tiefer senkt sich die Heide. Und je mehr man sich ihrem unteren Ende naht, um so belebter wird die Landschaft. Zur Rechten und zur Linken der Heide, wie an ihrem Fuße, erheben sich Burgen und Kirchtürme; vor sich sieht man den stattlichen Flecken Mals, überragt vom Eisbau des Ortlers. Mals ist ein uralter Ort römischen Ursprungs, mit ehrwürdigen Burgtrümmern, durchbraust von dem wilden Punibach, dessen Wasser in grauer Vorzeit die Schuttmassen der Malser Heide aus höheren Gebirgslagen herabgewälzt haben.
Noch senkt sich auch unterhalb von Mals das Gelände stark nach abwärts. Aber der Charakter der Heide ist verschwunden; zahlreiche Ortschaften beleben das Thal; Burgen schauen von den Vorsprüngen der Berghänge; weiße Häuser schimmern unter Obstbäumen; überall zeigen sich die Spuren fleißiger Menschenhände. Noch ein halbes Stündchen tiefer, wo die Thalsohle ganz flach wird, liegt das uralte graue Städtchen Glurns (Abb. 115). Hier ist der Ober-Vintschgau zu Ende; der zahmere Unter-Vintschgau beginnt; die Landschaft wird, wenn auch aus der Höhe kahle Felsschroffen und Eisspitzen hineinragen, gartenähnlich;[S. 125] die Etsch, so wild sie auch über die Malser Heide herabtobte, wälzt sich hier in wohlgeregeltem Bette hin.
Glurns macht einen Eindruck, als sei es aus längst vergangenen Jahrhunderten gespensterhaft emporgestiegen in den Sonnenglanz des Vintschgaues. Bemooste Mauern und Türme pressen die kleine Häusermasse des Städtchens zusammen; die paar Gassen, die es enthält, sind wie ausgestorben. Im Jahre 1499 durch die Graubündener, 300 Jahre später durch die Franzosen völlig verwüstet, ist es noch wie ein malerischer Steinhaufen liegen geblieben im blühenden Thale.
Zwei Seitenthäler münden hier ins Etschthal. Nach Südwesten zieht sich das Münsterthal gegen die Schweizer Grenze hinauf. Sein Eingang ist ein viel umkämpftes Schlachtfeld; der letzte Tiroler Ort in seinem Inneren ist Taufers, geschmückt von den Trümmern der Burgen Rotund, Helfmirgott und Reichenberg. Vom Turm zu Helfmirgott sprang einst eine, von einem wüsten Ritter von Rotund bedrängte Jungfrau; im Sturze rief sie: „Helf mir Gott!“ und gelangte unversehrt zur Erde.
Eine Viertelstunde thalabwärts von Glurns, bei Schluders, mündet das Matscher Thal, das sich sechs Stunden lang gegen die Gletscher der Ötzthaler Gruppe in nordöstlicher Richtung hinaufzieht. Über dem wilden, schluchtartigen Ausgange des Thales liegen die zerfallenen Reste der Burgen Unter-Matsch und Ober-Matsch, einst Sitze der fehdelustigen und raubgierigen Grafen von Matsch, eines der mächtigsten Tiroler Rittergeschlechter. Gegenüber, am nördlichen Thalhang, sonnen sich zwischen grünen Matten die Häuser des Dorfes Matsch. Der Ort wird schon in langobardischer Zeit genannt; sein erster Pfarrer soll der heilige Florinus gewesen sein. Wer das Thal hinauf wandert, sieht, rückwärts gewendet, die Eiswelt des Ortlers riesenhaft aufsteigen. Zwischen herrlichen Matten zieht sich das Thal stundenlang eben dahin, bis es in einen wilden Schluchtencirkus endet, aus dem nur noch vereiste Kletterpfade in die Nachbarthäler führen, und über den als Königin[S. 128] die Weißkugel ihre eisgepanzerten Schultern hebt.
Kehrt man aus dem Matscher Thale zurück ins Etschthal, so trifft man in Neu-Spondinig auf einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Das Thal wendet sich hier vollständig nach Osten und wird zum Unter-Vintschgau, dessen nördliche Umwallung durch die Gehänge der Ötzthaler Alpenwelt gebildet wird, während von Süden her die Abhänge der Ortleralpen ins Thal schauen, dessen Sonnenseite zunächst kahle, sonnverbrannte, pflanzenleere Steinmauern bilden, während auf der Schattenseite dunkle Waldung sich hoch emporzieht. Bei Neu-Spondinig zweigt von der Vintschgauer Straße die Stilfser Jochstraße ab und zieht heiß und sonnig quer durch das Thal, um bald darauf durch die Thalschlucht des Trafoibaches als kühnster Straßenbau der österreichischen Monarchie zum Stilfser Joch (Abb. 116) anzusteigen. Wie mächtig ihre Steigung ist, geht daraus hervor, daß Neuspondinig auf der Sohle des Etschthales nur 885 m, die Stilfser Jochhöhe dagegen 2760 m hoch liegt.
Zwei Stunden vom Eingange des Trafoithales, an dem die belebte Poststation Prad den Zugang bildet, spaltet sich das Thal bei der kleinen Gebirgsfestung Gomagoi. Der linke Thalast zieht hinauf in die Eiswelt des Ortlers. Es ist das Suldenthal — heut’ eine der vom Fremdenverkehr zumeist gesuchten Hochgebirgslandschaften (Abb. 117 u. 118). Was Zermatt oder Chamonix für die Schweiz, ist Sulden für Tirol. Seit ein paar Jahren erst ist die Fahrstraße in das Suldenthal vollendet, aber schon steht neben einigen kleineren ein riesenhaftes Hotel in dem ehemals weltverlorenen Bergdorf Sankt Gertrud. Ein schimmernder Kranz von Eisbergen umgibt das Thal: der gewaltige Ortler (Abb. 4), die geisterhaft schöne Königsspitze mit ihren Eiswänden (Abb. 5) und der Cevedale mit seinem makellos weißen Schneekleide. Sankt Gertrud ist nunmehr ganz Touristen- und Führerdorf geworden. Seit der kühne Passeirer Jäger Joseph Pichler im Jahre 1804 als erster die Spitze des Ortlers betreten hatte, sind mancherlei Wege auf diese höchste Zinne Österreichs, die sich 3902 m über den Meeresspiegel erhebt, gefunden worden. Die gangbarsten derselben führen von Sulden oder von Trafoi aus zur Payerhütte. die auf dem vom Ortler nach Norden ziehenden Tabarettakamm erbaut ist, und von hier über den oberen Ortlerferner zur[S. 129] Spitze. Der Berg selber ist eine aus Kalk bestehende massive Pyramide von kühnen, energischen Formen, aus der ganzen Gebirgsgruppe, der sie angehört, nach Norden zwischen die Thäler Sulden und Trafoi vortretend. Von seinen Schultern fließen der untere und obere Ortlerferner, der Marltferner, der Ende-der-Welt-Ferner und der mächtige Sulden-Ferner in die Tiefe.
Wandert man von Sankt Gertrud aus thaleinwärts, so gelangt man in einen großartigen Gletschercirkus, in dessen Innerstem die Schaubachhütte des Alpenvereines einen unvergleichlichen Ausgangspunkt für Alpenwanderungen bietet. Gletschersteige, nur für schwindelfreie und kniefeste Kletterer gangbar, führen von da auf die Hochgipfel des Ortlers, der Königsspitze und des Cevedale, sowie über vereiste Felsjoche nach den italienischen Thälern Val Zebru und Val Cedeh, und in das tirolische Martellthal.
Kürzer als das Suldenthal ist jenes von Trafoi (Abb. 119), in welchem die Stilfser Jochstraße mit ihren zahllosen Windungen zur tirol-italienischen Grenze hinansteigt. Prachtvoll ist der Einblick in die[S. 130] Eiswelt des Ortlers von Trafoi (Tres fontes) aus, wo in tiefster Bergeinsamkeit die „Heiligen drei Brunnen“ sprudeln, während hoch über ihnen die blaugezackten Gletschermassen des Trafoier und des Ortler Ferners hangen. Immer kühner wird der Straßenbau, immer fremdartiger und öder die Umgebung; der letzte dünne Wald bleibt zurück; die Straße zieht durch eine dürre Steinwüste so hoch hinauf, daß die Gletscher hart an sie herantreten, und erreicht endlich die Jochhöhe und die Grenze bei einer Steinsäule in einer Meereshöhe von 2760 m.
Aber hier beginnt italienisches Gebiet; wir müssen zurück in die Tiefe des Etschthals. Dieses wird allmählich fruchtbarer;[S. 131] an den Trümmern zerfallener Ritterburgen vorüber wälzt sich der eisgraue Strom durch die Getreidefluren von Tschengels und Laas und dann um einen mächtigen Schuttkegel in eine tiefer gelegene Thalgegend. Hier nimmt er die starken Gletscherwasser auf, die ihm aus dem von den Ortleralpen herabziehenden Seitenthal Martell zufließen. Und immer reicher wird die Landschaft; auf den Glimmerschieferfelsen über dem Thale winken malerisch die Burgen von Schlandersberg und Annenberg, von Montan, Castelbell und Hochgalsaun; an den untersten Gehängen des Thals zeigen sich schon die prächtigen dunkelgrünen Haine der Edelkastanie zwischen kleinen Weingärten. Bei Staben mündet, von Norden herabziehend, wieder ein größeres Seitenthal: das Schnalser Thal. Hoch droben in diesem Thale liegt das ehemalige Kloster Kartaus,[S. 132] das, 1326 von König Heinrich von Böhmen gestiftet, späterhin wegen des unkirchlichen Lebenswandels seiner Mönche aufgehoben ward. Jetzt wohnen arme Leute in den ehemaligen Mönchszellen. Bei Kartaus gabelt sich das Thal. Nach Nordosten steigt das Pfossenthal hinauf, wild und mit jähen Wänden. Ein paar einsame Bauernhöfe liegen noch in ihm; vom höchsten und letzten derselben, dem Eishof, führen Gletscherpässe ostwärts nach dem Pfeldersthale und nordwärts über den großen Ötzthaler Ferner nach dem Ötzthale. Der Hauptast des Schnalser Thals wendet sich nach Nordwesten; höher oben in ihm liegt noch der Wallfahrtsort Unser-lieben-Frau (Abb. 121). Zwei, zwar vergletscherte, aber doch viel begangene Pässe leiten von da ins Ötzthal hinüber, dessen Gletscher an ihrem Südabhange meist in jähen Wänden abbrechen, während sie nach Norden mit langen Zungen hinabziehen. Diese Pässe sind das Hochjoch und das Niederjoch, zwischen denen die dick beeiste Finailspitze ihr blinkendes Haupt erhebt. Das Schnalser Thal ist eines der abgeschlossensten und deshalb echtesten Thäler Tirols, von etwa 1200 Seelen bewohnt, friedfertigen, treuherzigen und stattlichen Menschen, ohne jede Fahrstraße.
Das Etschthal zeigt von der Mündung des Schnalser Thals abwärts schon fast südliche Fülle und Schönheit. Über prachtvollen Kastanien und Nußbäumen trotzen die Burgen von Hochnaturns und Tarantsberg; Reben umranken jedes Haus, üppiges Schlinggewächs jeden Fels. Noch einmal verengt sich das Thal zu einer merkwürdigen Schlucht, der „Töll“, durch welche sich die Etsch über eine Höhe von fast 200 m hinunterdrängt in die Tiefe. Dem Wanderer aber erschließt sich plötzlich ein weiter wunderbarer Blick in einen offenen Thalgrund, mit blinkenden Ortschaften, Kirchen und Burgen; eine entzückende, lachende Gartenlandschaft: das gesegnete Burggrafenamt von Meran.
Meran selber (Abb. 120), vordem die Hauptstadt von Tirol, liegt in üppigem Weingelände, am Ufer der Passer, die sich eine Viertelstunde weiter in die Etsch ergießt. Sie hat heute 7200 Einwohner. Obwohl weder als Industrie- noch als Handelsplatz thätig, ist die kleine Stadt weltberühmt wegen ihres unvergleichlichen Klimas, das sie seit etwa sechzig Jahren zu einem Kurort ersten Ranges erblühen ließ. Um die Gasthöfe, Pensionen, Heilstätten und Krankenpromenaden dreht sich das ganze Leben der Stadt. Aber so frisch auch die Quellen[S. 134] von den Bergen rieseln, so üppig jeder Weg und jeder Stein von Blüten überrankt erscheint, so kühl der Schatten der prächtigen Kastanien, so entzückend der Blick auf die riesigen Berge der Umgebung, auf die weite Thalebene, die Rebengelände und die prächtigen alten Burgen an den Hügelsäumen ist: der gesunde Mensch flieht Meran; hier ist zu viel des Leidens und Sterbens, das wehmütig stimmt — gerade bei dieser Vollpracht der Natur.
Ja — man flieht aus den sauberen und sonnigen Straßen Merans und seiner Nachbarorte Ober- und Untermais; hinauf nach dem Schloß Tirol (Abb. 122), dem alten Felsenneste, wo einst die Grafen von Tirol saßen und aus dem alten Kaisersaale der entzückte Blick meilenweit durch das Etschthal hinunterschweift und hinauf bis zu den Laaser Fernern. Oder nach dem schönen Schloß Lebenberg mit seinem Schatze von mittelalterlichen Erinnerungen; nach Schloß Schönna (Abb. 123) oder der trotzigen Fragsburg. Oder noch weiter in eins der großen Hochgebirgsthäler, die bei Meran in das Etschthal münden: in das Passeier- oder das Ultenthal.
Das Passeier, eins der meistgenannten Tiroler Seitenthäler, erstreckt sich über 30 km lang von Meran nordwärts bis zur Gletscherwelt der Stubaier und Ötzthaler Gruppe, von der eisfrischen Passer durchströmt. Nur der unterste Teil des Thales zeigt noch den üppigen Landschaftscharakter von Meran (Abb. 124). Die zerstörungslustige Passer mit ihren häufigen Überschwemmungen hat die Ansiedelungen genötigt, mehr nach den Thalwänden hinaufzusteigen. Von der Kellerlahn, einem brüchigen Berghang an der Ostseite des Thales, wälzen sich nach jedem Regengusse verheerende Schlammströme herab, um dann von der Passer thalauswärts gerissen zu werden. Hinter dem Dorf Sankt Martin, etwas rechts von der Straße, liegt das Sandwirtshaus (Abb. 125), aus dem Andreas Hofer hervorging, um seine kurze glänzende Heldenlaufbahn und seinen frühen Tod zu finden. Nicht ohne Rührung schaut der Wanderer hinüber zu dem schlichten weißen Hause. Hauptort des Thales ist Sankt Leonhard, unter den Ruinen der Jaufenburg. Hier spaltet sich das Thal; ein Ast zieht nordöstlich gegen den einst viel begangenen Jaufenpaß, über den ein Saumweg nach Sterzing führt. Der Hauptast aber wendet sich nach Westen. Die Straße wird zum Saumpfad. Bei Moos zweigt sich abermals ein Seitenthal ab: Pfelders. In ihm liegt, schon 1628 m hoch, noch die kleine Ortschaft Plan, eins der echtesten und ärmsten Hochgebirgsdörfer Tirols mit seinen wettergebräunten Hütten. Gletschersteige führen von hier über den Ötzthaler Kamm nach Gurgl. Das Passeier aber wendet sich[S. 136] von Moos wieder nach Norden. Man betritt das Hinterpasseier; eine der unwegsamsten weltentlegensten Gegenden Tirols. Der zum schlechten Steig gewordene Weg leitet noch zu den kleinen Ansiedelungen Seehaus, Rabenstein und Schönau; hier ist das Passeier zu Ende. Nach links führt ein kaum mehr erkennbarer Jochpfad zum Timbler Joch, zwischen der Ötzthaler und Stubaier Gruppe; nach rechts steigt man aufwärts zum ehedem erzreichen Grubengebiet des Schneeberges, das geographisch zum Passeier gehört, obwohl sein Verkehr nach anderer Richtung, nach Ridnaun und Sterzing hin gerichtet ist.
Ein anderes großes Seitenthal des Etschthals, auch bei Meran sich öffnend, ist Ulten, durch das die Valschauer fließt. Es zieht in südwestlicher Richtung hinan zur Ortlergruppe. Der Eingang in das Thal führt durch einen schönen, mit alten Kastanien geschmückten Naturpark und durch Rebengärten an den alten Schlössern Braunsberg und Eschenloh vorüber, durch deren Gemäuer sagenhafte Schatten schwanken und über denen in den granitenen Thalwänden die Ultner Sage Hexenschwärme sich umtreiben läßt. Weiter einwärts findet man Thonschiefer- und Porphyrbildungen; dort liegt als Hauptort von Ulten Sankt Pankraz und hoch darüber auf luftiger Berghalde Sankt Helena. In einer Enge zeigt sich weiterhin das viel besuchte Mitterbad (946 m), ein vitriolhaltiger Eisenquell. Nun steigt der Weg steiler im[S. 138] Thalgrund hinan; es folgen noch ein paar kleine Ortschaften; endlich als letzte Sankt Gertrud (1470 m). Von hier laufen noch Jochsteige in die Nachbarthäler: nordwestlich über einen vergletscherten Grat ins Martellthal; südwestlich am einsamen Corvosee vorüber zu den vielbesuchten Bädern von Rabbi im Val di Sole (Sulzberg). Das ganze Ultner Thal ist durchaus deutsch, neben welscher Nachbarschaft; nur ihre alten Volkstrachten hat die Bevölkerung gegen die wohlfeilen Italienerkittel vertauscht, trotz ihrer Wohlhabenheit. Allgemein gelten die Ultner als das lustigste Völkchen in Südtirol.
Von Meran abwärts ändert die Etsch plötzlich ihre Richtung; sie fließt nunmehr nach Südsüdosten bis in den Bozener Thalkessel, von wo sie eine rein südliche Richtung einschlägt. Das Etschthal von Meran bis Bozen heißt auch das Mutterländchen; es ist der Kern, an den das übrige Tirol nach und nach hinzugewachsen ist. Hier breitet die Natur schon jenen üppigen Segen aus, der sich dann durch das ganze übrige Etschland fortsetzt. Das Thal ist offen, mit flacher Sohle; Leben und Bevölkerung haben sich aber, diese Ebene vermeidend, an ihren beiden Seiten zu den Thalgehängen hingezogen. Hier liegt eine ganze Reihe von malerischen, wohlhabenden, rebenumrankten Ortschaften, überragt von prächtigen alten Burgen. Die Bahn und die Etsch drängen mehr nach der linksseitigen Thalwand hin, wo auch die Poststraße läuft, an den alten Burgen von Gargazon und Maultasch und dem rebengesegneten Terlan vorüber, und längs der roten Porphyrwände, von denen aus luftiger Höhe auch die Burgtrümmer von Greifenstein herunterleuchten. Am rechten, südwestlichen Thalgehänge ist das Gestein anfangs Granit, später auch Porphyr, von steilen Schluchten durchschnitten; auch Sandstein und vorgedrängtes Dolomitgeröll. An dieser Thalwand ragen die Schlösser Lebenberg und Helmsdorf, Thurn, die epheuumsponnene Maienburg[S. 140] und Brandis; dazwischen Bergschluchten, Weingärten und Haine von Edelkastanien und wiederum alte Burgen: Leonburg, Fahlburg, Katzenzungen, Wehrburg, Schwanburg und Nalsburg und viele andere. Man wird wohl kaum auf einem anderen Fleck Erde so viel Naturschönheit, mittelalterliche Romantik und gesundes Volkstum vereint finden, wie hier. Dabei wohnt in den sonnigen Dörfern eine rein deutsche Bevölkerung, hoch gewachsen und schön, treuherzig und an alter Sitte hangend.
Wir kehren wieder zur Landeshauptstadt zurück, um jenen merkwürdigen Thalspalt kennen zu lernen, der von Innsbruck aus durch das Sillthal, über den Brenner und das Eisackthal bis in den Bozener Kessel zieht. Heute tragen uns die Züge der Brennerbahn durch diesen Thalspalt dem sonnigen Süden zu. Gleich hinter dem Bahnhofe Innsbruck und dem ehrwürdigen Stift Wilten beginnen die mächtigen Bauwerke dieser Bahn, wo uns jene finstere Felsenpforte entgegengähnt, die den Berg Isel durchbohrt. Hoch über uns türmt der einst so viel umkämpfte Bergwall sich empor, dessen blutgetränktem Boden jetzt fröhlich grünender Wald entsproßt. Dahinter nimmt uns das einsame Sillthal auf, an dessen östlicher Thalwand die Bahn bergan steigt. Kaum hat dieselbe den Iseltunnel verlassen, so erscheint gegenüber eine von einem kühnen Brückenbogen überspannte Thalöffnung. Es ist der Eingang ins Stubaithal.
Das Stubaithal zieht sich, in seiner unteren Hälfte offen, bevölkert und wohlangebaut, im oberen Teil in almenreiche Hochthäler gespalten, hinauf zur Kette der Stubaier und Lisenzer Ferner. Die charakteristischen Bergformen des Kalkes und des Thon- und Glimmerschiefers treffen hier zusammen und schaffen ein reiches und großartiges Landschaftsgesicht, das sich schon am Eingang des Thales zeigt. In diesem[S. 141] liegt zu unterst das lebhafte Dorf Mieders (Abb. 126); von der jenseitigen grünen Höhe schauen freundlich die weißen Häuser von Telfes herab. Weiter thaleinwärts führt das Sträßchen nach dem bevölkertsten Orte des Thals: Vulpmes (Abb. 127), wo ein lebhaftes Eisengewerbe blüht. Mit Sensen, Sicheln, Äxten und anderen groben Eisenwaren versorgt das Stubaier Schmiedehandwerk einen weiten Umkreis. Das letzte Dorf in dem nur wenig ansteigenden Thal ist Neustift (Abb. 128). Hier verzweigt das Thal sich in zwei große Äste. Einer von ihnen, das Oberbergthal, wendet sich mehr westwärts in die großartige Wildnis der Alpeiner Alp empor, wo um die mächtigen firnumkleideten Felsriesen des „Wilden Turmes“, des Schrankogl und der Ruderhofspitze ein Eismeer sich ausdehnt, dessen nordöstliche Abdachung als „Alpeiner Ferner“ in das Thal niedersteigt. Das Hauptthal aber, Unterbergthal genannt, zieht noch fünf Stunden weit bis zu jenem Kranz gigantischer Eisberge, die man schon am Eingange des Stubaithals den Thalschluß mit leuchtendem Glanze überdachen sieht. Hier erheben sich neben dem 3511 m hohen „Zuckerhütl“, in dem die Gruppe kulminiert, der wilde Pfaff, die Sonklarspitze, die Schaufelspitze, der Botzer, der wilde Freiger, die Wildspitze, der Daunkogl und andere über 3000 m erhabene Gipfelhöhen aus einem weit gedehnten Eismeer, das zahlreiche prächtige Gletscherzungen in die obersten Verzweigungen des Thals herabhängen läßt. Zahlreiche vergletscherte Joche, unter denen das Bildstöckeljoch am meisten begangen ist, führen in die benachbarten Thäler, in das Ötzthal, ins Pflersch- und Ridnaunthal, selbst bis in die fernen obersten Gründe von Passeier.
Kehren wir zur Brennerbahn zurück. Sie erreicht die erste größere Ortschaft des Sillthales, das lang an der Straße hingestreckte Matrei (Abb. 129). Das Thal wird auch Wippthal genannt, der Name kommt von Vipitenum, wie einst Sterzing genannt ward. Unter dem alten Schloß, das Matrei überragt, führt in einem Tunnel die Bahn, dann in ebenem Gelände fort bis zu dem malerischen Steinach (Abb. 130), Geburtsort Martin Knollers, des bedeutendsten[S. 142] Tiroler Malers — vor Defregger. Von hier beginnt die eigentliche Steigung der Bahn. Diese hebt sich an der östlichen Thalwand höher und höher empor und biegt, weil sie auf gerader Linie die Steigung nicht bewältigen kann, weit in das Schmirner und Valser Seitenthal (Abb. 131) ein, indem sie in halbkreisförmigem Tunnel einen Berg durchbricht. Tief unter ihr liegt nun die Thalsohle und das letzte Dorf im Wippthale, Gries, über welches der Blick des Reisenden in ein stilles Seitenthal, das Obernbergthal, hinüberschweift. Noch eine letzte Steigung an kahler Felswand überwindet die Lokomotive keuchend und stöhnend; dann schlingt sich der Eisenpfad um einen grünen träumerisch zwischen Bergwäldern schlafenden See und erreicht die Paßhöhe.
Zwischen den östlichsten Ausläufern der Stubaier Gebirgsgruppe und dem Westabfall der Zillerthaler Gruppe ist, 1362 m über dem Meere, ein grünes Hochthal eingeschnitten: der Brenner. Als geräumige, alte, sturmfeste Herberge für Wanderer und Fuhrleute steht hier das stattliche Haus der Brenner Post, auf der Wasserscheide zwischen dem Schwarzen Meer und der Adria, an einer der wichtigsten Heer- und Völkerstraßen Europas.
Minutenlang rasten hier die mächtigen Lokomotiven, die keuchend ihre Züge heraufgeschleppt haben bis zur kühlen Paßhöhe. Aber es ist nicht viel zu sehen auf der berühmten Thälerscheide: den Ausblick in die höhere Gebirgswelt verdeckend schiebt sich von Westen her dunkles Waldgehäng, während man nach Osten zu auch nur grün bewachsene unscheinbare Bergrücken erblickt, die sich vom Tuxer Kamme herabziehen. Wer vom Süden heraufkam, nimmt hier Abschied von einer sonnigeren Welt; wen aber der Bahnzug oder das leichte Stahlrad — andere Fahrzeuge sieht man hier nicht mehr — von Innsbruck hergeführt hat, der kann wohl oft genug, wenn im Norden graue Nebel die Berge umrauchen, hoffnungsfreudig nach Süden schauen, wo durch ein Eckchen im Thalspalt jener wärmere Himmel blau aufglänzt, der ihn erwartet.
Hinter dem Brennerposthause stäubt durch den Bergwald ein zierlicher Wasserfall herab. Es ist der Ursprung des Eisack (Abb. 132). Und dann laufen sie, zunächst vorüber am stillen Wildbad Brenner (Abb. 133 u. 134), durch das stundenlange Wiesenthal friedlich nebeneinander her: die Eisenlinie der Brennerbahn, die alte Heerstraße und der krystallklare Eisack. Aber bei der Station Schelleberg gewinnt die Landschaft rasch ein anderes Gesicht. Das Thal öffnet sich weit; steil zieht die Heerstraße hinab nach Gossensaß; in wilden Sprüngen wirft sich neben ihr der Eisack in die Tiefe, und die Bahnlinie schwenkt nach rechts ab, um mittels eines langen Umweges durch das seitliche Pflerschthal die Tiefe von Gossensaß zu gewinnen. Nur ein bewunderungswürdiger Bau hat ihr dies möglich gemacht. Hoch oben zieht sie sich an der nördlichen Thalwand von Pflersch in das Thal hinein, bohrt sich ein tiefes gekrümmtes Loch in die Bergwand, um Raum zur Umkehr zu finden und zieht dann an demselben Hang absteigend nach Gossensaß hinaus (Abb. 135).
Gossensaß — der Sitz der Goten! War’s ein Wachtposten, den der große Theodorich hier zurückgelassen hatte, als[S. 144] er in die italischen Gefilde mit Heeresmacht hinabgestiegen war, um auf den Trümmern der römischen Weltmacht sein Gotenreich zu begründen? Oder war’s ein Rest versprengter Helden, die nach König Tejas tragischem Schlachtentod hier eine Zuflucht fanden? Heut ist Gossensaß eine der besuchtesten Sommerfrischen Tirols, mit vorzüglichen stattlichen Gasthäusern; nur durch seinen Namen klingt noch ein Ton wie Schwertergeklirr und Heerruf herauf aus den Tagen der Völkerwanderung.
Bei Gossensaß erschließt sich das Pflerschthal, das gegen Westen hinanzieht zu den Stubaier Fernern, die hier am weitesten gegen die Thalfurche des Brenners vortreten. Berühmt wegen seines, trotz seiner hohen Lage und seiner eisigen Umwallung milden Klimas, ist das kurze Thal reich an landschaftlicher Schönheit (Abb. 136). Diese wird ihm verliehen durch die unbeschreiblich finstere und trotzige Berggestalt des Tribulaun, der seine braunen zerhackten Dolomitwände zwischen dem Pflersch- und[S. 145] Gschnitzthale aufbaut; sowie durch den schönen Feuersteingletscher, der, schon von der Bahn aus sichtbar, von den eisbedeckten Gipfeln der Feuersteine tief in das Thal herabzieht. Der Bergbau, der einst auf silberhaltige Bleierze im Thal betrieben ward und gegen 300 Knappen beschäftigte, ist eingegangen; nur das Eis der Gletscher schimmert noch in Mondnächten silbern aus den Höhen. Gletschersteige führen hinüber nach Stubai, Gschnitz und Ridnaun und in das ferne Ötzthal.
Von Gossensaß zieht sich Bahn und Straße durch eine enge Schlucht hinab nach Sterzing. Von der Höhe links schauen die Reste der Ruine Straßberg; zur Rechten sieht man ein Meisterwerk der Ingenieurkunst: einen Felsentunnel, den man für den wildschäumenden Eisack brechen mußte, weil der Schienenstrang durch das vormalige Bett des Stromes geleitet ward. Weit öffnet sich dann der sonnige Thalkessel von Sterzing (Abb. 137 u. 138).
Sterzing, das Vipitenum der Römer, liegt 948 m hoch an einem Punkte, wo von Ost und von West große Seitenthäler in das Eisackthal münden. Eine offene Thalebene hat sich hier gebildet, das Sterzinger Moos, von den alten, aber erhaltenen Schlössern Thumburg, Sprechenstein und Reifenstein überragt. Am Nordende dieser Ebene liegt Sterzing, das eigentliche Herz von Tirol. Altertümlich sind seine Gassen; winkelig die Häuser mit den tiefen dämmrigen Thorbogen. Die Quellen des Wohlstands dieser Stadt waren einst der reiche Bergbau der Nachbarschaft und ein überaus lebhafter Fuhrwerksverkehr.
Zwei Seitenthäler münden hier ins Eisackthal. Nach Westen zu erschließt sich das Ridnaunthal (Abb. 139), das sich etwa 20 km lang in die Eisgefilde der Stubaier Gebirgsgruppe hinaufzieht. Wo ihm, von der stolzen Firnpyramide der Sonklarspitze herabsteigend, der Übelthalferner mit seinem breiten Eisgeklüft entgegentritt, gabeln sich die letzten, kaum mehr sichtbaren Steige. Einer derselben führt empor zu einer der höchsten Schutzherbergen der Alpen, dem „Kaiserin Elisabeth-Haus“ auf dem Becher (3173 m), von wo aus man auf Gletscherpfaden ins Ötzthal, nach Stubai oder Passeier wandern kann (Abb. 140). Aus Ridnaun steigt man auch hinauf zu dem merkwürdigen Bergwerksgebiete des Schneeberges (2356 m). Hier liegt noch die kleine[S. 146] Kirche von Sankt Martin. Der einst sehr reiche Bergsegen (silberhaltige Blei- und Kupfererze) ist heute sehr gering.
Bei Sterzing, gegenüber dem Ridnaunthal, mündet auch das Pfitscherthal, in nordöstlicher Richtung zur Zillerthaler Berggruppe hinaufziehend. Durch eine schauerliche, zertrümmerte Felsengasse gelangt man in das eigentliche Thal, das sich eben und wohnlich, von hohen Glimmerschieferhörnern umrahmt, in deren Lücken Eiszungen sichtbar sind, erstreckt. Bei den letzten Häusern des Thales trennen sich die Steige; in nördlicher Richtung leitet der meist begangene von ihnen zum Pfitscherjoche und ins Zillerthal; die anderen verlieren sich in den Gletscherwildnissen, die zur Eisburg des Hochfeilers hinanziehen. In keinem anderen Thale Tirols hat die Natur einen größeren Schatz kostbarer Mineralien[S. 147] in den Bergklüften verborgen, als hier in Pfitsch.
Brennerbahn und Brennerstraße führen, von Sterzing abwärts, durch sehr einsame Waldgegend über Freienfeld und Mittewald neben dem Eisack dahin. Schon meint man, die enge Waldschlucht nehme kein Ende; da zeigt sich plötzlich die Station Franzensfeste mit ihrem für Minuten erwachenden internationalen Fremdentreiben; und dann, etwas tiefer, die weißgrauen Granitmauern der gleichnamigen Festung, deren Feuerschlünde das Thal absperren. Die Bahn aber zieht auf luftigem Brückenbau mitten durch die Festung. Und dann ändert sich wie mit einem Schlage die Natur. Statt in enger Waldschlucht sich beängstigt zu fühlen, führt der Blick in ein weites, offenes Thal; lauer wehen hier die Lüfte; Rebengärten erscheinen an den sonnigen Thalhängen; dazwischen die dunklen Kronen der Edelkastanie und das hellere Laub der Nußbäume; überall schimmernde Häuser. Da ist der sonnige Süden, und vor uns liegt mit ihren Türmen die Stadt der Fürstbischöfe von Brixen (Abb. 141 bis 143).
Brixen, am Zusammenflusse der Rienz[S. 148] und des Eisack gelegen, mit 5500 Einwohnern, erscheint schon in karolingischer Zeit; Kaiser Ludwig das Kind schenkte hier ein Gehöft dem Bischof von Säben. Seitdem ward Brixen ein Hauptsitz geistlichen Wesens, aber auch von manchen Streitigkeiten zwischen geistlichen und weltlichen Mächten berührt. Die Stadt ist reizvoll gelegen, von zahlreichen kirchlichen Bauten und Kunstwerken geschmückt, erfüllt von klösterlicher Ruhe.
Durch die gartenähnliche Umgebung von Brixen wälzt sich der, durch die Rienz bedeutend verstärkte Eisack, langsameren Laufes dahin. Nicht lange erfreut man sich des freundlichen Bildes; bald trägt uns die Bahn wieder in eine Stromenge, wo neben dem grollenden Strome Straße und Schienenweg kaum Platz finden.
Hier zieht sich nach Osten hin ein ansehnliches Seitenthal: das Villnösthal, in welches eine Fahrstraße bis nach Sankt Magdalena führt. Für die geologische Bildung des Landes ist es charakteristisch, weil hier jenes merkwürdige Gestein erscheint, der Porphyr, der mit seinen roten Felswänden weite wellige Plateauflächen bildet, aus welchen weiter östlich die schroffen Türme und Zähne des Dolomits aufragen, und der bald auch an der Westseite des Eisackthales sich zeigt. Im Hintergrunde des Villnösthales, aus welchem Jochpfade in die Thäler Enneberg und Gröden führen, ragen schon mächtige Dolomitgipfel: die Geislerspitzen und der Peitlerkofl.
Bald zeigt sich ein höchst romantisches Bild: das alte, eng zwischen der Thalwand und dem Strome eingekeilte Städtchen Klausen (Abb. 144) und hoch über ihm, auf schwindelnd steiler Felswand, die weithin leuchtenden Fronten und Türme von Kloster Säben, einer der ehrwürdigsten Orte Tirols. Schon vor der römischen Eroberung eine Bergfeste der alten Rhätier, ward es von den Römern Sabiona genannt und vom VIII. bis X. Jahrhundert Sitz der Bischöfe von Säben, bis dieselben ihre Residenz nach Brixen verlegten. Mancherlei römische Denkmale und Funde geben Aufschluß über diese Zeit. Säben kam in ostgotischen und langobardischen Besitz, ward späterhin zu einer trotzigen Ritterburg und seit 1685 zu einem Kloster der Benediktinerinnen. Als 1809 die Franzosen das Kloster einnahmen, warf sich eine der Nonnen, um dem gierigen Feinde zu entrinnen, in den schauerlichen Abgrund; noch zeugt von ihrem Heldensinn ein an einen Turm gemaltes riesiges Kreuz, das ihrem Andenken gewidmet ist. Herrschendes Gestein hier ist Thonschiefer mit Diorit;[S. 149] auf den höheren Wellenplateaus desselben finden sich wohlangebaute Landschaften mit zahlreichen Ansiedelungen, kaum bemerkt von dem Reisenden, der durch die enge Eisackschlucht dahingetragen wird. Auch von den stolzen Ritterburgen, die hoch droben thronen, sieht man nur eine oder die andere; eine der schönsten ist Schloß Feldthurns oder Velthurns mit gediegener Zimmerarchitektur (Abb. 145).
Bei Waidbruck (Abb. 146) öffnet sich gegen Osten das Grödener Thal, 25 km lang, zum größten Teil von fahrbarer Straße durchzogen. Oberhalb Waidbruck leuchtet der Vogelweidhof (Abb. 52) herab, die Heimat Walthers von der Vogelweide. Die Straße ins Grödener Thal führt durch eine finstere Enge von brüchigem Glimmerschiefer und Porphyr; dann aber weitet sich plötzlich das Thal zu einer wohnlichen, herrlich begrünten Sandsteinfläche, auf welcher der Hauptort, Sankt Ulrich (Abb. 148), liegt. Die Einwohner des Grödener Thales sprechen ladinisch, aber auch deutsch und bezeichnen ihr Thal mit dem Namen Gardena. Zierliche, reinliche Häuser liegen auf den prächtigen Matten, über welche in imponierender Größe die Dolomite, die den östlichen Thalschluß bilden, hereinragen. Die fleißigen und erfinderischen Grödener warfen sich, da ihr Thal für den Getreidebau wenig geeignet ist, schon im Anfange des XVIII. Jahrhunderts auf die Holzschnitzerei, die heute neben der Spitzenklöppelei einen Haupterwerbszweig bildet (Abb. 34–37). Weiter einwärts im Thale, überragt von den gigantischen Dolomitwänden des Langkofel (Abb. 11), liegt in tiefer Einsamkeit die zerfallene Burg Wolkenstein, einst Sitz des Minnesängers Oswald von Wolkenstein. Zwischen den Felszinnen des Langkofels, dem Grödener Thale, dem Schlern und der Eisackschlucht, liegt die[S. 150] merkwürdige Seiser Alpe (Abb. 43), berühmt durch ihre unvergleichlichen Alpenwiesen wie durch die Mannigfaltigkeit ihrer geognostischen Erscheinungen. Ihre Höhe wechselt von 1800–2200 m; sie gehört größtenteils der Gemeinde Kastelruth (Abb. 147), welcher sie ein sehr bedeutendes Heuerträgnis liefert. Ihre Wasser fließen teils ins Grödener Thal ab, teils zum Eisack. Südwestlich grenzt sie an den mächtigen Dolomitwall des Schlern (2561 m, Abb. 8), der auf seiner Höhe über furchtbar steil abfallenden Wänden ein blütenreiches Grasplateau trägt. Das oberste Ende des Grödener Thales ist einsam und wild (Abb. 149); Jochsteige führen von ihm aus durch rätselhafte Felsengassen, an den wechselndsten Landschaftsbildern vorüber, in das Abteithal und in den obersten Teil des Fassathales.
Zu einer finsteren Schlucht treten nunmehr die Porphyrwände des Eisackthales zusammen; Leben und Ansiedelung haben sich nach der Höhe hinaufgezogen. In einem kleinen Nebenthale liegt hoch oben Seis (Abb. 150) und das kleine Bad Ratzes. Rasch eilen wir an den Stationen Atzwang und Kastelruth und an dem, in luftiger Höhe von der alten Ritterburg Prösels überragten Blumau vorbei. Dann wird die hohle Gasse etwas lichter. Auf schroffem Fels zeigt sich zur Linken droben die Burg Karneid, um deren Fuß die Straße ins Eggenthal (Abb. 151) und nach dem jetzt viel besuchten Karersee (Abb. 152 u. 153) sich windet. Von Blumau zieht sich das Tierser Thal hinauf bis in die Felswände der Rosengartengruppe, wo in einsamer Höhe die wohnliche Grasleitenhütte (Abb. 158) den Wanderer aufnimmt. Karneid aber schaut schon hinaus in den herrlichen weiten Thalboden von Bozen; die Bergwände zur Rechten treten ganz zurück; nach Süden und nach Westen hin wird der Ausblick frei; die Landschaft gewinnt mit ihrer reichen Fülle von Sonnenschein, mit ihrer üppigen Pflanzenwelt ein paradiesisches Gepräge; und vor uns liegen in einem weiten, blühenden Garten die Häusermassen und Türme von Bozen (Abb. 154 bis 157).
Bozen, mit 12000 Einwohnern, ist in den Winkel, den der Eisack und der Talferbach zusammenfließend bilden, gebaut. Durch die Eisackschlucht sieht man im Osten die Dolomitgestalt des Rosengarten aufragen; den Westhorizont verschließt der lang gestreckte Rücken der Mendel; nach Süden geht der Ausblick ungehindert durch das Etschthal hinaus; im Norden liegt die wellenförmige Landschaft des Sarnthales. Die ganze Lage der Stadt ist wunderbar geschützt gegen die Rauheiten des Alpenklimas.
Bozen war schon römische Niederlassung; nach kurzer Herrschaft der Ostgoten und Langobarden war es bayerische Grenzfeste; dann lange Zeit ein Zankapfel zwischen den Trientiner Bischöfen und den Tiroler[S. 152] Rittergeschlechtern, bis es den Grafen von Tirol gelang, sie dauernd an sich zu reißen. Früh zur wohlhabenden Handelsstadt aufgeblüht, hat Bozen diese Stellung sich zu erhalten und zu befestigen gewußt. Die Häuser und Straßen der Stadt zeugen von Wohlstand, Geschmack und Sinn für Behaglichkeit; die Hauptstraße ist von belebten Bogengängen (Lauben) gesäumt, in denen die Kaufläden sich befinden; durch die älteren Straßen laufen Gräben mit fließendem Wasser. Sehenswert sind die alte gotische Pfarrkirche, einige prächtige Privatgärten; in der Umgebung der aussichtreiche Kalvarienberg. Überaus reich und mannigfaltig ist die Landschaft um Bozen. Nordöstlich erstreckt sich eine mit vielen Gehöften und Sommerfrischorten besetzte wellige Berglandschaft, der Ritten genannt (Abb. 159), wo die schönen Ortschaften Oberbozen und Klobenstein den Bozenern während der heißesten Jahreszeit zum Aufenthalte dienen. Jenseits der Talfer, unmittelbar an Bozen anstoßend, bietet der berühmte Kurort Gries den Kranken einen milden, sonnigen Aufenthalt. Auch im Nordwesten lagert eine[S. 153] freundliche Hügellandschaft, wo die Ortschaft Jenesien einen ähnlichen Charakter hat wie Oberbozen. Zwischen dem Ritten und den Hügeln von Jenesien strömt der Talferbach aus dem gerade nordwärts sich hinaufziehenden Sarnthal hervor. In diesem, elf Stunden (35 km) langen Thale verliert sich, namentlich in seinem unteren Teile, den Charakter der Hochgebirgslandschaft völlig. Es bildet eine abgeschlossene Welt, die eigentliche Mitte von Tirol, mit charakteristischer, durchaus deutscher Bevölkerung. Zahlreiche Burgen schmücken das Thal; der ganze Zauber mittelalterlicher Romantik durchweht heute noch die Mauern von Runkelstein (Abb. 160). Hauptort des Thales ist Sarnthein. Aus den obersten Thalgründen führen nur mehr Jochsteige westwärts in das Passeier, ostwärts nach Sterzing. Herrschende Gesteinsarten sind im Süden der Sarnthaler Berge der rote Porphyr; nördlicher folgen Glimmerschiefer und Gneis.
Wir wenden uns wieder ins Herz von Tirol zurück, nach Brixen. Es gilt, jenen[S. 154] großen Felsspalt kennen zu lernen, der ganz Osttirol in eine nördliche und eine südliche Hälfte scheidet: das Pusterthal.
Das Pusterthal besteht aus einem breiten, gerade in westöstlicher Richtung verlaufenden Einschnitt, dessen Sohle ihre höchste Erhebung im Toblacher Felde erreicht, von dem die Drau nach Osten, die Rienz nach Westen abläuft. Die Gebirgsarten des Thales sind an seiner Nordseite Granit und Schiefer; an der Südseite Thonschiefer, hinter dem die Dolomitberge aufragen, die an ein paar Stellen, beim Toblacher Feld und bei der Lienzer Klause, bis an das Thal heraustreten.
Eine römische Heerstraße führte auch durch Pusterthal und verband Aquileja mit den norischen Ortschaften Loncium (Lienz) und Aguntum (Innichen). Heute ist die Bevölkerung des Thales deutsch; nur in dem großen südlichen Seitenthale Enneberg wird ladinisch gesprochen und im Flußgebiet der Drau erinnern vereinzelte Berg- und Wassernamen an die verdrängte slavische Bevölkerung. Das Klima ist bei der hohen Lage des Pusterthales ein fast rauhes; trotzdem haben Fleiß und Mäßigkeit den Pusterthalern zu ausreichendem Wohlstand verholfen; und in der Geschichte der Tiroler Heldenkämpfe stehen sie mit in erster Reihe.
Der moderne Weltverkehr strömt ins Pusterthal von der Station Franzensfeste an der Brennerbahn. Hier zweigt die Pusterthalbahn ab, indem sie, den Eisack auf luftiger Brücke überschreitend, nach Osten hin abbiegt, den Höhenzug, der vom untersten Laufe der Rienz den Eisack trennt, durchschneidet und den ersten Pusterthaler Ort Mühlbach erreicht. Der dem Pusterthal entfließende Bergstrom, die Rienz, mündet südlicher, bei Brixen, in den Eisack; sein unterster Lauf ist aber unwegsam. Die erste Ortschaft thaleinwärts ist Mühlbach, an der Mündung des granitischen Seitenthales Vals. Bis hierher reicht noch der Weinbau. Auf der gegenüber liegenden Seite des Rienzthales baut sich der Rodenecker Berg mit seinen Getreidefluren, die ihm den Namen des „Goldenen Berges“ verschafft haben, auf; an seinem äußersten[S. 156] Vorsprunge gegen die Rienzschlucht trägt er die stattliche Burg Rodeneck. Hat man, von Mühlbach thaleinwärts, die Engen der Mühlbacher Klause überwunden, so zeigt sich in einer Thalerweiterung Station und Dorf Vintl. Hier kommt das Pfundersthal von Norden herab, aus dessen einsamen Schluchten selten begangene Jochsteige nach dem Pfitscher- und Ahrnthale führen. Angesichts der Burgruine Baumgarten, des Schlosses Ehrenberg und der Trümmer von Sonnenburg zieht die Bahnlinie nach dem Marktflecken Lorenzen, wo einst das römische Litanum lag.
Südlich von Lorenzen öffnet sich eine schmale Bergpforte, aus welcher ein Bach, die Gader, strömt. Ein weit verzweigtes System von Thälern liegt hinter diesem unscheinbaren Eingang. Wir müssen dieses Thalsystem kennen lernen; denn seine Verzweigungen führen uns tief ins Innere jener merkwürdigen Bergwelt, die man als die südtiroler Dolomite bezeichnet.
Das Gaderthal erstreckt sich, etwa 30 km lang, gerade nach Süden, anfangs in einer Enge zwischen Glimmerschieferbergen. Dann spaltet sich das Thal in zwei Äste. Von diesen heißt der nach Südosten führende Enneberg, mit dem Hauptort Sankt Vigil, in reizvoller Lage. Hier wird schon überall die grüne Mattenlandschaft von mächtigen steil aufgerichteten Dolomitzacken überragt. Der Boden um Sankt Vigil ist ein gefährlicher; verheerende Bergstürze haben hier mehrmals gehaust. Noch höher oben führt dieser Thalast den Namen Rauhthal; die Ortschaften hören auf; vereinsamte Fußsteige nur führen durch ausgedehnte Weidegebiete nach den Paßhöhen, über welche man ins Pragser und Ampezzothal gelangt.
Viel bedeutender und belebter ist der gerade nach Süden sich erstreckende Hauptast des Gaderthales. Wandern wir in ihm aufwärts, so gelangen wir allmählich aus der Region des Glimmerschiefers in die des Dolomits, der uns in der imponierenden Gestalt des Peitlerkofels begrüßt. Das Thal führt in seinem weiteren Verlaufe den Namen Abteithal. An den Ortschaften Picolein und Sankt Martin mit der Burg Thurn, an die sich blutige Erinnerungen aus der Zeit des Faustrechtes knüpfen, führt die Straße vorbei. Kurze Seitenthäler öffnen sich zur Rechten und zur Linken der Straße; am spärlichen Häuserhaufen von Pederoa vorüber zieht sich diese bis zum Hauptorte des Thales, Sankt Leonhard, auch Abtei oder, mit italienischem Namen, Badia genannt. Mit lotrechten Wänden hängt der Kreuzkofel über die grüne Thalfläche herein. Überaus reich ist die Kalk- und Sandsteinkruste der Erde hier an Versteinerungen. Noch zwei Stunden über dem Dorfe, unter den Schroffen des Kreuzkofels, liegt die Wallfahrtskirche Heiligkreuz (2038 m). In dieser Wildnis[S. 157] büßte ein Graf Otwin von Pusterthal einst seine Sünden als Eremit. Bald hinter Sankt Leonhard spaltet sich das Thal abermals. Nach Südosten zweigt sich der versteinerungsreiche Thalast von Sankt Cassian ab, von wo höchst interessante und eigenartige Jochübergänge nach der Ampezzaner Straße und nach Buchenstein führen. Im Hauptthale dagegen läuft das Sträßchen stets ansteigend nach den obersten Ortschaften Corvara und Colfuschg (1643 m). Hier ist man in einem der innersten Heiligtümer der Dolomitgebirge. Trotz der hohen Lage wird noch Getreide gebaut; lohnender ist die Viehzucht auf den prächtigen Alpenmatten. Den großartigen Thalschluß des obersten Gaderthales bildet der ausgedehnte Felsenbau der Sellagruppe (vgl. Abb. 10), die in der Boëspitze (3152 m) gipfelt. Durch die märchenhaften und einsamen Trümmergassen dieser unbegreiflichen, farbenreichen und formenschönen, versteinerten Welt führen, auf- und niedersteigend, halb verlorene Wege nach Buchenstein, Fassa und Gröden. Wer einen dieser Wege geht, der erstaunt über die Mannigfaltigkeit der Bilder, die sich da erschließen; über diese, wie aus der grünen Thalwelt hervorgezauberten, in allen Farben leuchtenden Felspaläste, deren jeder für sich der Sitz eines Reiches von Berggeistern zu sein scheint.
Lassen wir uns von diesen Geistern wieder nach dem Norden zurückversetzen ins kühle, grüne Pusterthal. Die Bahn führt uns eine Station weiter nach Bruneck (Abb. 162), mit seinem ragenden Schlosse, das, einst durch die Macht der Brixener Bischöfe erbaut, jetzt als Gefängnis dient. Die Landschaft hier ist weit, offen, gut angebaut; Edelsitze liegen um die Stadt, in deren Umgebung der Tiroler Aufstand des Jahres 1809 ausbrach und erlosch.
Durch einen breiten Thalspalt fliegt von Bruneck aus der Blick nach Norden, zu den eisbedeckten Gipfeln der Centralalpen. Es ist eines der größten Seitenthäler des Pusterthales, das sich hier erschließt: das etwa 45 km lange Ahrnthal. Aus ihm ziehen zwei sehr ansehnliche Nebenthäler nach entgegengesetzten Richtungen; und eine Anzahl von kleinen Seitenschluchten steigen, reich an den großartigsten Naturbildern, in die Eiswelt der Zillerthaler-, Venediger- und Rieserfernergruppe hinauf. Der Eingang des Ahrnthales ist ungewöhnlich breit; zwischen Getreidefeldern und Obstbaumhainen liegen hier, am Rande der Bergwälder, anmutige Dörfer und Edelsitze; dazwischen zeigen sich die Spuren alter Überschwemmungen und Schlammbrüche. Randgestein des unteren Thales ist Granit, der später in Glimmerschiefer übergeht. Am nördlichen Ende des untersten Thalbodens liegt dessen Hauptort, Sand,[S. 158] mit schönen Marmorbrüchen; unweit davon, am Anfang einer Thalenge, die überaus malerische Burg Taufers (Abb. 161). Einem Dornröschenschlosse gleich ragt das alte Gemäuer grau und gespenstig aus der Waldnacht; über ihm steht, im Hintergrunde des[S. 159] Thales, die blinkende Eispyramide des Schwarzenstein, zur Zillerthaler Gruppe gehörig. Die Ritter von Taufers erscheinen schon im Harnischglanz des XII. Jahrhunderts, starben aber 1340 aus. Wie das Ortlergebiet und das Ampezzothal ist Taufers eine wichtige Stätte für Heranbildung erprobter Bergführer (Abb. 163).
Unweit von Taufers münden die zwei größten Seitenthäler des Ahrnthales: das Mühlwaldthal und das Reinthal. Das Mühlwaldthal zieht in einem Bogen erst westlich, dann nördlich. Sein schmaler und steiler Zugang schließt es vom Verkehr ab; der schlechte Fahrweg, der hineinführt, endet schon in dem ansehnlichen Dorfe Mühlbach. Höher droben liegt noch die Berggemeinde Lappach; über ihr ein ausgedehntes Alpengebiet, wo die Thalbäche aus den Abflüssen des mächtigen Neveserferners und von den Eishängen des Hochfeilers her zusammenfließen. Nur geübte Gletscherwanderer mögen sich hier noch die Pfade über vereiste Grathöhen nach dem Pfitscherthale und nach dem Zillerthale suchen.
Das Reinthal steigt von Taufers nach Osten zu in die Rieserfernergruppe hinan. Die Zugänge zum Thale sind wild und beschwerlich; stundenlang führt der Pfad steil neben den stürzenden und tobenden Wasserfällen des Thalbaches aufwärts zwischen brüchigen Wänden. Es ist ein düsterer, unheimlicher Steig. Hoch droben an der nördlichen Thalwand liegt ein Gehöft, beim Kofler genannt, zu dem man aus der Schlucht nur über Felsentreppen und Leitern gelangt. Drei Stunden einwärts von Taufers spaltet sich das Thal; hier liegt die einzige Ortschaft: Rein oder Sankt Wolfgang, aus wenigen zerstreut liegenden braunen Hütten bestehend, 1596 m hoch. Im Osten umstarrt das Thal ein leuchtendes Amphitheater von Eisbergen; hier erheben sich der Schnebige Nock oder Ruthner-Horn (3360 m), der Hochgall (3440 m) und der Wildgall (3272 m). Die letztgenannten[S. 162] beiden Berge gehören zu den schroffsten Eisgipfeln Tirols; als die ersten Versuche zu ihrer Ersteigung gemacht wurden, behaupteten die Leute von Rein, man könne auf den Wildgall nur, wenn man sich Steigeisen an die Kniee und an die Ellenbogen bände. Zwischen dem Reinthal und dem Ahrnthal streicht eine Kette von finsteren zertrümmerten Felsbergen entlang, an deren Fuß man durch das unbeschreiblich öde Knuttenthal in die obersten Gebiete des Defereggenthales gelangt. Die Namen dieser Berge lauten zumeist auf Nock aus: Mostnock, Hirbanock, Zintnock, Klausnock.
Das Ahrnthal wird für eine halbe Stunde zur engen Waldschlucht, nach Nordwesten gewandt, erweitert sich aber bei Luttach, um sich nunmehr nach Nordosten zu wenden. Seine südliche Wand bilden die vorhin genannten Trümmerberge; die nördliche besteht aus dem Zillerthaler Hauptkamm, zu welchem zwölf kurze, steile Seitenthäler hinansteigen. An den untersten Hängen dieser nördlichen Thalwandung liegen, da sie die Sonnenseite hat, die Gehöfte stundenweit zerstreut über der Thalsohle; man hat sich hier sorgsam bemüht, das Wasser der Wildbäche zum Teil in kleine Bewässerungskanäle abzuleiten und dadurch nutzbar zu machen. Über dieser Zone anmutiger Ansiedelungen, die fast alle weit ins Thal hinabschauen, beginnen steile Bergwälder; dann Felswände und furchtbare Trümmerfelder, endlich die meist steil abfallenden Gletscher und Firnfelder.
Bei Luttach steigt gegen Westen das Weißenbachthal mit seinen Seitenschluchten zu den ausgedehntesten Gletschergebieten der Zillerthalerferner empor. Im Ahrnthale, das von hier auf eine Ausdehnung von drei Stunden seinen ebenen und bevölkerten Charakter beibehält, gelangt man auf guter Straße weiter nach Sankt Martin und Steinhaus. Letzteres ist oberhalb Taufers der wichtigste Ort des Thales, mit weithin leuchtender Kirche. Jedes der nördlichen[S. 164] Seitenthäler gewährt einen Einblick in die Eiswelt.
Bei Sankt Peter gewinnt das Thal einen anderen Charakter; es verengert sich zu einem düsteren brüchigen Schlunde, durch den die Straße zum letzten Thalboden ansteigt, der die Prettau genannt wird. Hier liegen noch in einer Hochgebirgslandschaft, in die von Osten schon die eisigen Ausläufer der Venedigergruppe herüberglänzen, die Ortschaften Sankt Valentin und Kasern. Bei Sankt Valentin endet der Fahrweg; hier zeigt sich auf einmal, völlig fremd anmutend, industrielles Leben: das Kupferwerk der Ahrner Gewerkschaft. In den Chloritschiefern, welche die Kupfererze dieser Gruben führen, finden sich auch sehr schöne Quarzkrystalle und Magneteisen. Kasern, der letzte Ort des Ahrnthales, liegt schon 1624 m hoch; ein altes sturmfestes Tauernhaus bietet hier eine bescheidene, aber mit echter Tiroler Liebenswürdigkeit gereichte Unterkunft. Und das ist wohl notwendig; denn die Wege, die von hier noch weiterführen, sind lang und anstrengend, in der schlechteren Jahreszeit von todbringenden Gefahren umdroht. Es sind die Jochsteige über das Merbjoch nach Defereggen; über das Heiligengeistjöchl in den Zillergrund; über den Krimmler Tauern oder über die Birnlücke nach Krimml im Pinzgau und über das vergletscherte Umbalthörl (Abb. 164) in die schweigsamen Einöden des Umbalthales. Auf dem zuletzt genannten Wege ging einst ein ganzer Wallfahrerzug im Eise verloren. So erzählt uns ein greiser Führer droben auf der eisigen Paßhöhe.
Setzen wir aber die Fahrt durchs Pusterthal fort. Von Bruneck aufwärts überwindet die Bahn durch kunstvolle Bauten die Hindernisse, die das verengerte felsige Stromthal ihr bot. Mehrmals die Rienz überschreitend, gelangt sie nach Olang. Hier sind wir am Eingange des Antholzerthales, das nach Norden zu in die Rieserfernergruppe hinansteigt, und in dessen Innerem in träumerischer Bergeinsamkeit einer der schönsten Seen Tirols, der Antholzersee, sich eingebettet hat. Über sein klar blaugrünes Wasser hängt schweigsam eine bleiche Gletscherzunge herein.
Weiterhin im Pusterthale zeigen sich[S. 166] über der Station Welsberg das Schloß Welsberg und die Burgtrümmer von Thurn; dann die Mündung des Pragserthales. Dieses besteht aus zwei Ästen. In dem westlicheren derselben schuf der von den Wänden des Seekofel überragte dunkelgrüne Pragser Wildsee (1496 m, Abb. 165) eine der prächtigsten Dolomitlandschaften; im östlichen Thalaste liegt das lebhaft besuchte Bad Alt-Prags (Abb. 166) in einem Rahmen mächtiger Dolomitberge. Ein aussichtsreicher und bequemer Jochpfad führt von Prags über die Plätzwiesen nach der Ampezzaner Straße.
Unmerklich hebt sich die Sohle des Pusterthales höher und höher; die Bahn berührt noch den stattlichen Markt Niederdorf (Abb. 167) und erreicht endlich bei der Station Toblach (Abb. 168) auf dem Toblacher Felde die Wasserscheide zwischen Drau und Etsch (1204 m). Hier, wo von Süden her die Kalkberge mit ihren gewaltigen Stirnwänden bis ins Pusterthal hervortreten, klafft ein für den Völkerverkehr wichtiger Spalt des Gebirges im Süden auf, durch den der Ampezzaner Straßenzug nach Italien leitet. Hier war es auch, wo im VII. Jahrhundert die deutsche Schwertgewalt entschied, daß Tirol nicht den eingedrungenen Südslaven gehören sollte, sondern den Einwanderern bajuwarischen Stammes. Und nicht bloß über Tirol fiel damals die Entscheidung, auch über Kärnten und Steiermark. Denn mit jenem Siege begann das Zurückdrängen der Slaven.
Ein riesiges modernes Hotel steht breit am Zugang zur Ampezzaner Straße. Wir müssen, ehe wir die Fahrt durch das Pusterthal fortsetzen, auch diesen Straßenzug kennen lernen; denn er führt uns in das Quellgebiet der Rienz hinauf. Dieses Thal ist ganz anders geartet als die meisten anderen Tiroler Thäler. So trotzig und gewaltig auch die steilsten Felsberge gleich an seinem Eingang aufragen: sein Hintergrund ist nicht durch Gletscher oder Felskämme verschlossen, sondern offen, und über eine niedrige Wasserscheide führt eine ausgezeichnete Straße in die italienischen Gefilde. Dieser Thalspalt ist, von Toblach bis zur italienischen Grenze, 37 km lang und weist in stetem Wechsel eine Reihe der großartigsten Landschaftsbilder auf. Zunächst dem Pusterthale führt er den Namen Höhlensteinerthal. Hier durchfließt die Rienz den ernsten, dunkelgrünen Toblacher See. Kaum merkbar steigt die Straße an bis zum Posthause von Höhlenstein, italienisch Landro. Nach Südosten öffnet sich die Rimbiancoschlucht, durch welche die „Schwarze Rienz“ herabstürzt. Im Hintergrunde dieser schattigen Enge erscheinen, wie ein Märchengebilde, die „Drei Zinnen“. Eine der merkwürdigsten Schöpfungen dieser Kalkwelt, 3003 m hoch, sind sie mit ihren turmartigen Formen zu einem der bekanntesten Landschaftsbilder der ganzen Alpen geworden (Abb. 15). Gleich hinter Höhlenstein zeigt sich dann in der Thaltiefe der manchmal während der Herbstzeit völlig austrocknende hellgrüne Dürrensee, in dem der schöne Monte Cristallo mit seinem Gletscher und seinen Zacken sich spiegelt (3199 m, Abb. 14). Eine halbe Stunde weiter erreicht die Straße die wenigen Häuser von Schluderbach, einer der berühmtesten Sommerfrischen Tirols, in prachtvoller Lage, und steigt dann noch 2 km sacht an bis zur Wasserscheide „auf dem Gemärk“ (1544 m). Von hier ab fließen die Gewässer zur Piave, nach Süden. Ueber das schön gelegene Ospitale erreicht die Straße den Felsen des gänzlich zertrümmerten Schlosses Peutelstein, steigt in Windungen in die Thaltiefe und wendet sich dann südlich, wo sich allmählich der prachtvolle Thalkessel von Cortina d’Ampezzo (Abb. 169) erschließt. Aber dieser nach dem Venetianischen gewandten Abdachung der Tiroler Alpen soll an anderer Stelle noch ausführlicher gedacht werden. Wir wenden uns zurück zur Wasserscheide des Toblacher Feldes, um den letzten Teil des Pusterthales, soweit es zu Tirol gehört, kennen zu lernen.
Auf dem Toblacher Felde, wo dasselbe schon gegen Osten sich neigt, entspringt die Drau aus einem Felsen des Rohrwalds. Ihr Lauf geht nach Osten; wir folgen ihm und gelangen zunächst nach Innichen (Abb. 171). Hier thut sich im Süden das Thal von Sexten auf, nicht bloß durch seine Heilquellen (Schwefelwasser und anderes) bekannt, sondern auch durch die riesigen Kalkschroffen, welche seinen Hintergrund bilden, und in deren Felsenburgen begrünte Thäler führen; darunter besonders schön das Fischeleinthal[S. 167] (Abb. 170). Unter ihnen nimmt die Dreischusterspitze (3162 m) die erste Stelle ein. Innichen selber, einst Pflanzstadt der Römer, ist ein alter und ehrwürdiger Platz, schon zur Zeit des Frankenreiches wichtiges Bollwerk gegen die südslavischen[S. 168] Wanderhorden. Seine Handelsbedeutung hat es freilich schon lange verloren.
Von Innichen ostwärts treten die Kalkschroffen der Südseite wieder in den Hintergrund; beide Thalwände sind wiederum Schiefer; und damit wird die Landschaft grün und abgeflacht. Die Bahn trägt uns, stärker abfallend, über Sillian und Abfaltersbach, an wenig besuchten Seitenthälern vorüber in eine ganz einsame Waldlandschaft. Die Kalkberge der südlichen Thalwand sind wieder näher getreten. Hinter Station Mittewald wird das Thal völlig düster und menschenleer; die Drau und die Bahn treten in die enge Lienzer Klause, die auch im Jahre 1809 blutige Kämpfe sah. Wo sie sich öffnet, liegt in weitem lachenden Thalgrunde Lienz.
Dieses schöne, wenn auch etwas stille Städtchen, der wichtigste Platz im Osten von Tirol, liegt nur mehr 673 m über dem Meere. Die Drau nimmt hier die weit stärkere Isel auf, die von Nordwesten aus den Tauern herabströmt.[S. 169] Wir haben im Drauthale nichts mehr zu suchen; denn die Grenze von Kärnten ist ganz nahe. Aber ein merkwürdiges und landschaftlich hoch interessantes Gebiet erschließt sich noch im Norden: die Tiroler Seite der Tauernkette.
Wir lassen das friedliche Lienz hinter uns mit seinen zerrissenen Kalkschroffen und wenden uns nach Nordwesten, in ein zunächst einförmiges Thal, aus dem uns die eisige Isel entgegenbraust. Nach etwa drei Stunden führt unser Sträßchen an der Mündung des Defereggenthales vorüber, das zwölf Stunden lang ohne besondere Landschaftsreize zwischen grünen Rücken in gerade westlicher Richtung sich erstreckt. Wir bleiben im Thale der Isel und erreichen nach weiteren drei Stunden das prächtig gelegene Windisch-Matrei (Abb. 172). Hier endet die Fahrstraße. Nach Norden zieht sich in engem, immer großartiger werdendem Thale der uralte Saumpfad zum Matreier Tauernhause und von da steil hinan zum Velber Tauern (2545 m), an der Grenze Tirols gegen den Salzburgischen Pinzgau. Weit großartiger ist das Wandern vom Tauernhause westwärts in das Hochthal von Gschlöß (Abb. 173), wo der zerklüftete Schlatengletscher seinen mächtigen Eisstrom niederwälzt und der Großvenediger (3660 m) seine blanke Eispyramide über seinen granitenen Unterbau erhebt (Abb. 174).
Das Hauptthal der Isel, nunmehr Virgenthal genannt, wendet sich von Matrei an gegen Westen. Auf kaum mehr fahrbarem Wege erreicht man hier noch das schlichte Alpendorf Prägraten und damit den letzten Ort im Iselthal. Vergletscherte Übergänge führen von hier noch ins Ahrnthal oder über das Massiv des Venedigers in den Pinzgau.
Das Iselthal hat ein nach Norden abzweigendes Seitenthal, das uns noch zu einem anderen großartigen Grenzsteine Tirols leitet: das Thal von Kals. Hier liegt Kals (1322 m, Abb. 175), eines der berühmtesten Hochgebirgsdörfer, am Fuße[S. 170] des Großglockners. Nicht leicht mag man das Leben und Volkstum eines Tiroler Hochgebirgsdorfes schärfer ausgeprägt finden, als in den schlichten Hütten von Kals, hinter deren Mauern doch so athletische und kühne Männer wachsen können, wie es die Kalser Führer sind. Scharf und mit zerrissenen Gräten, an allen Seiten von steil abfallenden Gletschern umhangen, hebt sich der gewaltige Bau des Glockners (3798 m, Abb. 1) über die grünen Matten von Kals empor. Aber die Begeisterung der Alpenfreunde hat auch seine wilden Höhen gangbar gemacht. So hoch überragt sein scharfes Gipfelhorn die ganzen Ostalpen, daß seine Rundschau von der Berninagruppe bis zum Triglav und vom Böhmerwalde bis zur Adria reicht. Dafür hat auch mehr als einer von denen, die ihre Kraft an ihm versuchten, hier einen jähen Bergtod gefunden. Aber man muß nicht einmal auf den Glockner steigen, um dieser Gefahr ins starre Auge zu schauen; auch um die Tauernpässe, die über seine Schultern führen, geistern die Schatten Verunglückter durch die eisigen Höhen.
Breit und großartig wird das Etschthal von Bozen abwärts, bis zu den Engen der Veroneser Klause, wo es Tirol verläßt: ein fruchtbarer, von prächtigen Bergen umgebener Thalgrund mit zahllosen Ortschaften, einzelnen Häusern, Kirchtürmen und alten Schlössern (Abb. 176 u. 177). Die Berge zeigen nur mehr spärliche Waldbedeckung; schärfer und plastischer kommen ihre Formen zum Vorschein, als im Norden. Die Ebene, streckenweise versumpft, weist zwar die Spuren verheerender Überschwemmungen auf; ist aber dort, wo sie dagegen geschützt war, mit üppiger Pflanzenpracht bedeckt. Die Farben des Etschthals sind heiß und feurig: rötlich und gelblich schimmernde Bergwände mit tiefblauen Schatten. Die Gesteinsart ist noch bis gegen Neumarkt[S. 172] hin der rote Porphyr mit seinen grün bewachsenen rundlichen Kuppen und Schwellungen; aus ihm ragt an der Westseite das lang gestreckte Dolomitgerüst der Mendel empor. Auf dieser Strecke des Etschthales vernimmt der Reisende mehr und mehr italienische Laute; wir nähern uns der Sprachgrenze; die Tiroler Tracht verschwindet; an die Stelle des Holzbaues treten steinerne Häuser, an die des rauschenden Bergwalds niedriges Gestrüpp; statt der Wiesen und Getreidefelder sehen wir in der Tiefe Mais- und Maulbeerpflanzungen; alles verwelscht sich.
Das Thal ist so breit, daß sich zwischen seinem östlichen und westlichen Hang ein niedriges Mittelgebirg hineinlegen konnte, aus Porphyr bestehend, welches eine Hochebene trägt. So haben wir von Bozen bis zu dem 23 km entfernten Neumarkt einen doppelten Weg zur Auswahl: entweder den östlichen, der uns mit der Bahn durch das breite, von Kanälen durchschnittene Etschthal führt, oder einen westlicheren, wo eine schöne Straße über die Hochfläche von Eppan oder Kaltern zieht, welch’ letztere auch „Überetsch“ genannt wird. Dieser westliche Weg ist der interessantere. Die nördliche Ecke des im Etschthale liegenden Mittelgebirgs ist von der stolzen Feste Sigmundskron geschmückt, die von umbuschter Höhe ins Etschthal niederschaut. Hier stand schon eine Römerburg, Formicaria genannt; Sigmundskron ist die großartigste Ruine Tirols. An Sankt Pauls vorüber wendet sich die Straße auf der Hochfläche nach Sankt Michael oder Eppan. Die prachtvoll gelegene Ruine Hohen-Eppan, einst Sitz eines der mächtigsten Tiroler Adelsgeschlechter, liegt etwas seitab. In Eppan zweigt eine der schönsten neueren Kunststraßen ab: die Mendelstraße (Abb. 178). Sie steigt in vielen Windungen, mit glanzvollen Aussichtspunkten am steilen Ostabfall des Mendelgebirgs empor bis zur Höhe des Mendelpasses (1360 m). Köstliche, leicht erreichbare Aussichtspunkte haben den Mendelpaß und sein vorzügliches Hotel zu einer internationalen Berühmtheit erhoben (Abb. 179). Hier droben auf der sonnigen Höhe ist auch die Sprachgrenze; das jenseits absteigende Thal des Nonsbaches ist welsch.
Von Eppan gelangt man durch prächtige weinreiche Landschaft, die von teils erhaltenen,[S. 174] teils zerfallenen Burgen überragt und mit üppigen Kastanienwäldern geschmückt ist, nach Kaltern. Dabei überall lachende Zeugen des hiesigen Wohlstandes und entzückende landschaftliche Ausblicke. Unter Kaltern liegt das heitere Becken des Kalterer Sees, an dessen Ufern der edelste Tirolerwein wächst. Mit ihm vergleichbar ist nur der benachbarte von Tramin, das schon wieder in der Tiefe des Etschthals, am Abhang des Mendelgebirges sich zwischen seinen Rebengeländen ausbreitet. Aus Tramin gelangt man wieder durch die Etschebene nach der Bahn bei Neumarkt. Hier ist der Charakter der deutschen Ortschaft schon stark mit italienischen Elementen durchsetzt; eine höchst malerische Kunststraße zieht sich von Neumarkt in vielen Windungen, mit einer bis zum Ortler reichenden Rundsicht, nach einer Paßhöhe hinauf und von dort in das Thal des Avisio hinab. Die letzte deutsche Ortschaft am Ostufer der Etsch ist Salurn, 31 km von Bozen. Am westlichen Ufer reicht die deutsche Sprachgrenze etwas weiter nach Süden, bis nach Deutschmetz. das die Italiener Mezzo Tedesco nennen.
Die Bahn überschreitet den Nonsbach und dann die Etsch; bei San Michele ist sie schon in Welschtirol. Dann übersetzt sie bei Lavis den Avisio, der aus dem Fleimser- und Fassathal hervorströmt. Ortschaften und Menschen tragen hier schon die bezeichnenden Züge des Italienertums. Die Häuser sind hoch, steinern, aber schmutzig und verwahrlost und deshalb malerisch; zerlumpt und schäbig, aber lebhaft und intelligent sehen die Einwohner aus.
Durch das fruchtbare, mit Maulbeerbäumen und Reben bepflanzte Etschthal trägt uns im Fluge der Wagenzug dahin, während von den Berghängen zahlreiche Kirchen, Schlösser und Landhäuser schimmern. Dann sehen wir vor uns das ganze Thal von Häusermassen erfüllt, aus denen eine hohe Domkuppel und ein mächtiger Kastellbau emporragen: wir sind in Trient, der uralten Römer- und Bischofstadt (Abb. 180 bis 182).
Trient, italienisch Trento, das mittelalterliche Tridentum, mit 21600 Einwohnern, liegt am linken Ufer der Etsch, in gartenähnlicher Landschaft. Wohl zeigt auch sie[S. 176] jene Spuren des Verfalls, die den meisten Städten italienischer Nation eigen sind; aber die vielen Türme und Paläste, die breiten gut gehaltenen Straßen machen doch einen stattlichen Eindruck. Die Stadt, die schon von den römischen Geographen genannt wird, soll etruskischen Ursprung haben und hat eine reiche Geschichte hinter sich. Auf die Herrschaft der alten Rhätier folgte hier jene der Römer; Theodorich der Große baute die Mauern der Stadt; um sie kämpften Goten, Langobarden und Franken, Trientiner und Venetianer. Hohes politisches Ansehen verschaffte der Stadt das in den Jahren 1545–1563 hier abgehaltene Tridentinische Konzil. Ehrwürdig ist der romanische Dom, an dessen mächtigem Bau durch vier Jahrhunderte gearbeitet ward, mit dem Grabmal des venetianischen Feldherrn Sanseverino, den die Trientiner in der Schlacht bei Calliano erschlugen; berühmt auch die Konzilskirche Santa Maria Maggiore mit einem großartigen Orgelwerk, dessen Meister nach der Vollendung geblendet worden sein soll, damit die Orgel einzig in ihrer Art bliebe. In der Peterskirche wird die Mumie eines heiligen Knaben, San Simonin gezeigt, der von Juden geschlachtet worden sein soll. Das hervorragendste weltliche Gebäude ist das Schloß Buon Consiglio; vormals fürstbischöfliche Residenz, jetzt Kaserne, überragt es mit feudalem Trotz die Stadt und die Landschaft. Aber auch in den Gassen selber ist mancher schöne alte Palast von aus langobardischen Geschlechtern abstammenden Trientiner Adelsfamilien eingebaut. Ein riesiger runder Turm soll römischen Ursprungs sein. Das heutige Trient ist immer noch eine wohlhabende Stadt, unter deren Gewerben die Gewinnung und Verarbeitung des berühmten Trientiner Marmors wohl in erster Linie genannt werden muß; daneben Zucker- und Branntweinindustrie. Vieles von dem, was als „Veroneser Salami“ in die Welt geht, hat seinen Ursprung in Trient. Eine östliche Straße führt von hier ins Valsugana (s. XIII); eine westliche über das Gebirge nach dem Tobliner See und dem Sarcathale (s. XIV).
Von Trient thalabwärts heißt die Landschaft Val Lagarina (Lägerthal), die Etsch[S. 178] Adige. Bahn und Straße halten sich am linken Ufer des nun schiffbar gewordenen Stromes; die jurassischen Bergwände erscheinen größtenteils kahl. Über dem viel umkämpften Calliano erscheint am Berghang Schloß Beseno; in der Nähe die Riesentrümmer eines Bergsturzes. Der Höhenzug an der Westseite des Etschthales ist der durch seine außerordentlich reiche Flora berühmte „Garten Abrahams“; an seinem Fußgestell grüßen die Trümmer der Burg Nomi herüber; weiter Pomarolo mit dem ansehnlichen Schloß Castelbarco. Dann hält der Wagenzug in Rovereto.
Rovereto (Roveredo), ein lebhaftes Städtchen, mit 9000 Einwohnern, liegt am linken Etschufer in einer Thalweitung, an der Mündung des Lenothals (Abb. 183). Es ward nach dem Ende der Römerherrschaft Eigentum der Herren von Castelbarco; dann lange Zeit ein Zankapfel zwischen den Herrschern von Tirol und der venetianischen Republik. Im XVI. Jahrhundert wurde hier der Grund zur Südtiroler Seidenindustrie gelegt, deren Mittelpunkt jetzt Rovereto ist. Die von einem alten Kastell überragte Stadt enthält schöne Plätze mit plätschernden Brunnen und Palästen; an den Einwohnern von Rovereto rühmt man Eleganz der Sprache, Bildung und Liebenswürdigkeit. Die Umgebung ist eine üppige gartenähnliche Landschaft, aus deren Rebengeländen alte Burgen schauen. Zwischen dem helleren Grün der Weingärten, Maulbeerpflanzungen und Maisfelder zeigen sich schon ernst und dunkel vereinzelte schlanke Cypressen.
Die Bahn, immer am linken Etschufer bleibend, eilt weiter nach Mori, wo im Westen sich jener merkwürdige Thalspalt aufthut, durch den am einsamen Loppiosee vorüber die Straße und eine Zweigbahn nach dem Thale des Gardasees führen. Dann folgt San Marco mit den schauerlichen Resten jenes Bergsturzes, von welchen Dante im zwölften Gesang seiner Hölle sagt:
Auf Schloß Lizzana bei San Marco verweilte Dante während seiner Verbannung aus Florenz; den gewaltigen Eindruck, den jene Landschaft auf den Dichter machte, hört man noch aus seiner großartigen Dichtung erklingen. Wahrscheinlich geschah der Bergsturz im Jahre 883; er soll eine ganze Stadt verschüttet haben.
Wir nähern uns der Grenze Tirols. Im Fluge noch folgt die zertrümmerte Sperrfeste Serravalle, dann noch das malerische Städtchen Ala, berühmt durch eine lebhafte Sammetindustrie. Die letzte österreichische Ortschaft ist Avio. Dann überschreitet die Bahn die italienische Grenze; die Thalwände senken sich, treten näher zusammen und bilden eine lange gewundene Felsengasse mit Steilwänden. Neben dem mächtig schäumenden Bergstrom windet sich die Bahn entlang: wir sind in der berühmten, seit grauen Tagen so oft umkämpften Veroneser Klause. Immer niedriger werden die Bergwände; plötzlich wird es licht und blau überall; der Bahnzug braust hinaus in offenes Hügelland. Wir haben die Alpen hinter uns; vor uns aber liegt mit seinen üppigen Gärten und gewaltigen Mauern das ehrwürdige Verona, die Stadt des Ostgotenkönigs Dietrich von Bern.
Eine Reihe von Landschaften des Tirolerlandes unterscheidet sich geographisch und ethnographisch von den bisher kennen gelernten. Es sind jene Thäler, welche von ihrem Ursprung an nach Süden zu sich abdachen, der Osthälfte Tirols angehören und eine fast durchgängig romanische Bevölkerung haben. Zuflüsse der Etsch, der Brenta und der Piave sind es, welche aus diesen Thälern abströmen. Die Besiedelung dieser Thäler hat von Süden her stattgefunden; ihre Bevölkerung ist teils altromanisch, teils italienisch; nur in den nördlichsten Ausläufern mit deutschen Elementen durchsetzt.
Diese Thäler sind, von Westen nach Osten gerechnet: das Fleimser- und Fassathal nebst seinem südlichen Nachbargebiet, dem Valsugana und dessen Seitenthälern, die Thäler von Canale und Primiero, das oberste Thal des Cordevole (Buchenstein) und das Ampezzothal. Fremdartig sind uns Deutschen die Landschaften, fremdartig die Orte und Häuser, fremdartig die Bewohner.[S. 180] Sagte es uns nicht die Karte, so wüßten wir nicht, ob wir in Tirol oder in Italien sind. Nur in den oberen Teilen dieser Thäler umrauscht uns noch der heimische Fichtenwald, grüßen uns noch deutsche Laute.
Unter diesen Thälern ist das des Avisio das ausgedehnteste. Es mündet bei Lavis in das Etschthal und zieht, 75 km lang nach Nordosten, ins Herz der Dolomitalpen, im untersten Teile Val di Cembra (Zimmers), weiter aufwärts Val di Fiemme (Fleimserthal), im obersten Teile Fassathal genannt, berühmt durch seine merkwürdigen geologischen Erscheinungen und seine großartigen Landschaftsbilder. Bei seiner großen Längenerstreckung enthält es eine bedeutende Anzahl von Seitenthälern, von welchen die längeren und wichtigeren nach Süden und Osten ziehen. Die herrschenden Gesteinsarten sind roter Porphyr und Dolomit; aber man findet auch andere Kalksteinarten, ferner schwarzen Augitporphyr, Granit und Sandstein.
[S. 181]
[S. 182]
Den Namen der untersten Thalstufe, des Val di Cembra, hat man mitunter von den Cimbern abgeleitet; in der That trägt die Bevölkerung deutsche Züge, obgleich sie italienisch spricht. Hier herrscht in der Landschaft der rote Porphyr, durch den der Avisio sich in schluchtenartigem Bette schäumend und grollend hindurchzwängt. Hauptort dieser Thalstufe ist Cembra, auf sonniger Hochfläche. Dieser Teil des Thales sieht keinen Fremdenzug; letzterer zieht gewöhnlich die schöne Kunststraße vor, welche aus dem Etschthale bei Neumarkt gleich in den mittleren Teil des Thales, ins Fleimserthal führt.
Auch im Fleimserthale findet man deutsch aussehende Menschen; die Sprache ist italienisch. Diese Thalstrecke hat ein seltsam zusammengewürfeltes Gestein zur Unterlage: roten und schwarzen Porphyr, Granit und Sandstein; und auf dieser Unterlage ragen dann die Dolomitzacken empor. Hauptort von Fleims ist das stark bevölkerte Cavalese (Abb. 184) mit stattlicher[S. 184] gotischer Kirche. Die schöne Straße windet sich, von Cavalese thaleinwärts, an der nördlichen Thalwand hin, mit beständigem Ausblick auf den freundlichen grünen Thalboden und den Lauf des Avisio. So geht es über Tesero, Panchia und Ziano nach der fruchtbaren Thalweitung von Predazzo (Abb. 185). Dieses ist der geologisch merkwürdigste Punkt des ganzen Thales, mit einer ganz außerordentlichen Mischung von Gesteinsarten. Hier mündet von Osten her das Thal Paneveggio, fast völlig unbewohnt, aber mit einer hoch interessanten Jochstraße (Rollepaß) nach San Martino di Castrozza.
Das Fleimserthal wird von Predazzo aufwärts etwas enger und düsterer; in stundenweiten Entfernungen folgen die Ortschaften Forno und Moëna. Bei letzterer fängt das Thal an, den Namen Fassathal zu führen. Moëna ist wichtiger Knotenpunkt; ein Saumweg führt von hier westwärts über den Karerpaß (1758 m) zu dem jetzt vielgenannten Karersee, von wo durch das Eggenthal die Straße nach Bozen hinabläuft. Ein streckenweit zur Not fahrbares Sträßchen zieht sich ostwärts durch das Pellegrinothal bis zur Grenze Italiens. Das Fassathal selber ist im Westen überragt von den turmförmigen Dolomitzacken des Rosengartens, jenes märchenhaften Gebirgsstocks, in dessen Zaubergeheg der Sage nach einst Dietrich von Bern den Zwergkönig Laurin einfing. Klettergeübte Bergwanderer mögen wohl über einen der Rosengartenpässe hinübersteigen ins Tierserthal, das nach Blumau zum Eisack hinuntersteigt. Wer im Fassathale bleibt, erwandert noch die Orte Vigo und Perra (Abb. 187). Hier erschließt sich zur Rechten das kurze Monzonithal, in dessen trümmerreichem Felsenamphitheater die Natur eine Fülle verschiedenartiger Mineralien ausgeschüttet hat: Feldspatkrystalle und Turmaline, grüne Hornblende und braune Granaten und anderes mehr. Landschaftlich überaus reizvoll ist Campitello, der letzte größere Ort im Fassathale (Abb. 186). Ein prächtiger Ort für den Bergwanderer; die interessantesten Jochsteige führen von hier[S. 185] nach allen Seiten. Das Fassathal wendet sich nun nach Osten. Es folgen noch die kleinen Ortschaften Gries, Canazei, Alba und Penia; dann steigen wir an den obersten Quellbächen des Avisio hinauf in das grüne Hochthal von Fedaja, wo ein schweigsamer kleiner Hochsee liegt, gerade unter dem blinkenden Eisfelde der Marmolada (3360 m, Abb. 12), die als Königin der Dolomitberge unmittelbar über uns sich erhebt. Wer kniefest ist und schwindelfrei, mag wohl von dem Alpenwirtshause zu Fedaja aus die fünfstündige Wanderung antreten über den Gletscher und die Dolomitwände der Marmolada zu ihrem schneebedeckten Gipfel. Hier steht er auf einem der stolzesten Grenzpfeiler zwischen Tirol und Italien.
Wer aus diesem obersten Quellgebiet des Avisio nach dem östlich benachbarten Thale Buchenstein oder Livinallongo will, findet den schönsten Weg vom Fedajapaß durch ein Stück Italien. Drei Stunden wandert er vom Fedajapaß durch die Schlucht von Sottoguda bis in das oberste Thal des Cordevole, eines Zuflusses der Piave. Auf italienischem Gebiete ist durch einen Bergsturz 1772 der von mächtigen Felswänden umrahmte Alleghe-See entstanden (Abb. 188). Bei dem prachtvoll gelegenen Caprile (Abb. 191) erreicht der Wanderer wieder den Boden von Tirol. Durch ein furchtbares Trümmerfeld zieht sich der Pfad am Cordevole thalaufwärts in das Gebiet der obersten Quellbäche dieses Flusses. Dieses Gebiet besteht aus zwei auseinander gabelnden Thälern, führt den deutschen Namen Buchenstein und zeichnet sich, wie alle Hochthäler in den Dolomiten, durch merkwürdige Bodengestaltung aus. In dem nordwestlichen der beiden Buchensteiner Thäler liegt als Hauptort Pieve di Livinallongo (1475 m), von wo Jochsteige zum Fedajapaß, nach Gröden und in das oberste Abteithal ziehen. Im nordöstlichen Thalaste liegt die Ortschaft Andraz, höher droben noch das alte Kastell Andraz, das der Bergwanderer berührt, wenn er eine der hoch interessanten Paßhöhen überschreiten will, über die man aus dem grünen wohlangebauten Buchenstein nach dem Abteithale oder ostwärts nach Ampezzo gelangt. Es ist wohl eine der eigenartigsten Bergwanderungen, die aus Buchenstein durch den Falzaregopaß in den sonnigen Thalkessel von Cortina d’Ampezzo gemacht werden kann.
Cortina, dessen deutscher Name, Heiden, fast völlig verklungen ist, ist mit seinen 800 Einwohnern nicht bloß einer der malerischsten, sondern auch wohlhabendsten Orte Tirols (Abb. 169 u. 189). Wir haben ihn schon von anderer Seite her, aus dem Pusterthale erreicht. Die italienische Bevölkerung, die ihren Wohlstand hauptsächlich dem Holzhandel aus dem Pusterthal nach Venedig verdankt, ist ausreichend mit deutschen Elementen durchsetzt, um es auch dem Deutschen hier behaglich werden zu lassen. Riesenhafte, kühn geformte Berge umragen das Thal: der Monte Cristallo (3199 m); der Piz Popena (3143 m); die Tofanaspitzen (3241 m); die Sorapiß (3229 m) und der Antelao (3264 m), beide weithin sichtbar und sich spiegelnd im kleinen Misurina-See (Abb. 190). All’ diese mächtigen Kalkschroffen tragen kleine Gletscher; westlich von Cortina baut sich der unvergletscherte, aussichtreiche Nuvolau (2578 m) empor. Die Wege, die von Cortina nach Osten und nach Süden laufen, haben wir nicht mehr zu betreten; denn sie überschreiten nach wenigen Stunden schon die Grenze Italiens.
Versetzen wir uns zurück nach Trient. Es gilt, auch in die südlichsten Thäler von Osttirol noch einen Blick zu werfen.
Von Trient aus öffnet sich nach Osten das Valsugana. Durch den Schlund, welchen sich hier der Fersinabach in die Thalwand genagt hat, zieht ein kühner Straßenbau aufwärts nach Pergine. Von hier steigt das Fersinathal noch stundenweit ins Gebirge aufwärts, bemerkenswert durch einige deutsche Gemeinden, die sich hier mitten in einer italienischen Bevölkerung erhalten haben: Bruchstücke von Völkerschaften, deren Abstammung man heute nicht mehr zu enträtseln vermag. Die Gegend um Pergine ist heiter, wohlangebaut, von Rebengärten, Nußbäumen und Kastanienwäldern geschmückt. Das Valsugana wendet sich von hier gerade nach Süden und berührt, wie all’ diese Landschaften, recht mannigfache Bildungen der Erdrinde. Südlich von Pergine liegt der reizvollste landschaftliche Schmuck des Valsugana: zwei, durch einen Hügel getrennte Seebecken, der[S. 186] See von Caldonazzo und der von Levico. Ersterer wird als Quelle der Brenta angesehen. Südlich von diesem reizenden Seethal baut sich, zum Teil noch in Tirol, zum Teile schon in Italien, ein ausgedehntes bergiges Grenzgebirg empor, in welchem noch wie eine Insel fremden Volkstums, eine Anzahl von deutschen Gemeinden liegt, mit den Hauptorten Lusarn (Luserna) und Lafraun, in Höhen von 1200 bis 1300 m.
Von Levico zieht das Valsugana ostwärts. Dort liegt Borgo, der Hauptort des Thales, mit 3900 Einwohnern, umgeben von malerischen Burgen. Der letzte Ort im Tiroler Valsugana ist Grigno; hier verläßt die Brenta den Boden Österreichs. Wir wenden uns, um in Tirol zu bleiben, nach Nordosten. Weiter führen uns Jochsteige in das Thal von Canale San Bovo und nach Primör (Primiero) und San Martino di Castrozza (Abb. 192 und 193). Hier sind wir am Fuße einer der wildesten und großartigsten Gruppen des tirolisch-italienischen Grenzgebirges: der Palagruppe. In furchtbarer Steilheit ragen hier die Cima di Vezzana (3191 m), der Cimone della Pala (3186 m) und die Pala di San Martino (2996 m) empor, auf ihren Schultern Gletscher tragend; ein riesiges Korallenriff, das wohl in den Urzeiten der Erde auf dem Boden eines längst abgeflossenen Meeres emporwuchs und durch seine abenteuerliche Gestaltung heute die Kühnheit der verwegensten Felskletterer herausfordert. Von diesen Gipfeln aus schweift der Blick nordwärts durch die Zackengefilde der Dolomite, südwärts hinunter in die grünen Ebenen Venetiens und bis zur fernen blauen Adria. Diese seltsamen trotzigen Naturbauten sind nur zu bewältigen, indem der kundige Blick der Führer all’ jene zusammenhängenden Rinnen, Kamine, Wandstufen und Geröllbänder ausfindig macht, die eine Art von labyrinthisch gewundenen Felsenleitern bilden. Auf ihnen gelangt aber nur der schwindelfreie und kniefeste Bergwanderer zu diesen Gipfeln, die erst im Laufe der letzten Jahrzehnte bekannt geworden sind.
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Das letzte Gebiet in Tirol, das wir kennen zu lernen haben, ist jenes, das im Norden von der Eiswelt der Ortlergruppe, im Osten vom Etschthal, im Westen und Süden von der italienischen Grenze umgeben ist. Seine beherrschenden Gebirgsmassen sind der Südabfall der Ortlergruppe, die Presanella, die Adamello- und die Brentagruppe im Westen; die lang gestreckte Mendel im Osten. Zwischen diesen Erhebungen ziehen sich zwei große Thäler herab; eines zur Etsch, das andere in den Gardasee mündend, beide zuerst von Südwest nach Nordost, dann nach Süden absteigend. Die Bevölkerung dieser Thäler ist bis auf wenige Gemeinden italienisch, italienisch auch die ganze Landschaft.
Wir betreten das nördlichere dieser Thäler, das Nonsbergthal (Val di Non) bei Deutschmetz, dem südlichsten deutschen Orte an der Etsch, wo der Nonsbach (Noce) mündet. Die Straße führt durch eine romantische Schlucht, die Ronchetta, über die ein alter Römerturm hereinragt. Bald öffnet sich das Thal und zeigt einen ganz eigentümlichen Charakter, der es von den bisher kennen gelernten Thälern Tirols scharf unterscheidet. Das Thal ist sehr breit und die Thalwände steigen so allmählich an, daß sie bis hoch hinan mit wohlbebauten Fluren, mit Dörfern, Gehöften und Schlössern bedeckt sind. Durch dieses weite Gelände, das nur an seinen Rändern höher aufgerichtet ist, wälzt sich der Nonsbach in einer engen unwegsamen Schlucht herab, so daß er fast nirgends sichtbar wird. Herrschende Gesteinsart ist roter Sandstein, überragt von Dolomit. An beiden Seiten des Thales, über dem Nonsbach, laufen Straßen entlang. Der Hauptort des Thales, Cles, mit 2200 Einwohnern, liegt 25 km thaleinwärts, eine uralte Kulturstätte. In Römerzeiten stand hier ein Tempel des Saturnus, dessen Trümmer in eine christliche Kirche eingebaut wurden. Die Straße, die am Osthange des Thales führt, verzweigt sich[S. 190] gegenüber von Cles und steigt in nördlicher Richtung gegen die Thalumwallung empor zum Markte Fondo, von wo sie nach weiteren zwei Stunden den viel besuchten Mendelpaß erreicht. Von Fondo aus gelangt man auch zu den vereinzelt gelegenen deutschen Gemeinden des Nonsbachthales, Laurein, Proveis und anderen, schon in bedeutenden Höhen. 2 km hinter Cles wendet sich das Thal, erst nach Nordwesten, dann nach Südwesten. Diese Richtung behält es bei. Es verliert auch den Namen Nonsbachthal oder Nonsberg und heißt nun thalaufwärts Sulzberg (Val di Sole). Hier erhält es zugleich anderen Landschaftscharakter. Der Thalgrund wird schmäler, die Thalwände zeigen sich dunkel bewaldet, die Ortschaften sind spärlicher. Große Seitenthäler ziehen nach Norden und Nordwesten hinauf. Vier Wegstunden hinter Cles liegt der Hauptort des Sulzberg, Malé, am unteren Ausgange des großen Seitenthales von Rabbi, wo in einer Höhe von 1220 m das berühmteste Bad von Tirol, Rabbi, mit seinen kohlensäurehaltigen Brunnen liegt. Bis Rabbi führt eine Poststraße, weiter nur noch Jochsteige.
Eine Stunde aufwärts von Malé liegt Dimaro, von wo eine einsame Waldstraße südlich nach Campiglio führt. Von Dimaro aus beginnt das Sulzbachthal ernste, finstere Hochgebirgslandschaft zu werden. Das Gestein wird ein anderes; im Südwesten erheben sich die Granitmassen der Presanella; die Thalwände selbst sind Glimmerschiefer und Thonschiefer. Die zu den Gletschern der Presanella nach Süden hinaufziehenden Waldschluchten sind überaus einsam und düster. Bei Cusiano spaltet sich das Thal. Nach Nordwesten zieht nun ein Thalast empor, aus welchem der Nonsbach hervorströmt; es ist das Thal von Pejo, das mit seinen Ausläufern in die Eiswüsten der Ortlergruppe hinaufsteigt. Nach Südwesten aber, durch das Vermigliothal, führt die Jochstraße aufwärts, im Angesichte der Presanellagletscher bis zur einsamen Höhe des Tonalepasses (1884 m), an die Grenze der Lomdardei.
Zwei hohe, vergletscherte Gebirgsmassen, die Presanella und die Brentagruppe, scheiden die Thäler Sulzberg und Nonsberg von einer südlicher gelegenen Landschaft, welche unter dem Namen Judicarien (Giudicaria) bekannt ist. Wir wollen auch dieses Gebiet kennen lernen, indem wir von seinen tiefst gelegenen Teilen, die zugleich Landesgrenze zwischen Tirol und Italien sind, hinaufsteigen zu den höheren, dem Laufe seiner Wasser entgegen.
Diese Wasser aber sind die der Sarca; und wo dieselbe auf österreichischem Gebiete endet, wirft sie sich rauschend und froh in den himmlischen blauen Spiegel des Gardasees.
In einer Länge von 55 km erstreckt sich dieses entzückende Gewässer aus der Ebene Oberitaliens bis nach Tirol (Abb. 194 und 195). Aber nur seine Nordspitze gehört noch zu Tirol; an ihr liegen noch die kleinen Hafenorte Riva und Torbole. Riva, mit 5000 Einwohnern, ist der bedeutendere. Hier hört man noch die österreichischen Offiziere, die Hotelwirte, auch einzelne Geschäftsleute deutsch reden; im benachbarten Torbole vernimmt man nur mehr italienische Laute. Und die Landschaft hat ein so südliches Gesicht, wie irgendwo an der Riviera. Die Seeufer fallen steil zur Tiefe ab; an ihnen spielt das wundersame blaue Wasser um große Felstrümmer. Mächtige Wellen schlägt der See hier, wenn ihn der Südwind seiner ganzen Länge nach aufwühlt. Hohe Kalkberge steigen an den Ufern empor; im Osten der lang von Nord nach Süd gestreckte Monte Baldo (2200 m); im Westen die Berggruppen, die unter dem Namen Trienter Alpen zusammengefaßt werden. Den schattigen deutschen Wald vermißt man an diesen Ufern; die Berge sind klippiger grauer Kalk, zwischen dessen Gräten und Wänden sich grüne Flächen von Rasen und niedrigem Gestrüpp hinanziehen. Auch die Thaltiefen sind schattenlos; an den staubigen Straßen stehen dünne Maulbeerbäume; an den untersten Berghängen kann man durch melancholische Ölbaumhaine wandern. Ab und zu belebt ein schwerfälliges schwarzes Frachtschiff, ein kleines Fischerboot oder ein Dampfer die Seefläche.
Durch eine stundenlange, fruchtbare Thalebene führt die Straße von Riva nach Arco (Abb. 197). Dieses Städtchen, mit 2400 Einwohnern, ist durch seine außerordentlich geschützte Lage und sein herrliches Klima zum weltberühmten Winterkurort geworden. Ueber dem Orte ragt auf steilem[S. 191] Fels die alte Burg Arco. Hinter Arco verengt sich das Thal der Sarca zwar, bleibt aber an seiner Sohle ein üppiger blühender Garten. Es führt hier den Namen Seethal und zieht als solches in nördlicher Richtung bis Alle Sarche, 20 km vom Gardasee. Hierher führt auch eine Straße von Trient, am reizenden Tobliner See (Abb. 196) vorüber, der unmittelbar bei Alle Sarche liegt und das alte Kastell Toblino umschließt. Im Angesichte von See und Burg windet sich die nach Judicarien führende Straße an der Thalwand empor; das Thal wendet sich nun westlich, wo die Sarca durch enge Schluchten herabschäumt. Bei Villa di Banale biegt sich das Sarcathal nach Südwesten, während zugleich gegen Nordosten ein Thalspalt sich aufthut, in dem eines der prächtigsten Kleinode der Südtiroler Landschaft verborgen liegt: der Lago di Molveno, über dessen blauem Spiegel die eisigen Zinnen der Cima di Brenta und Cima Tosa sich auftürmen.
Im Sarcathale steigt die Straße aufwärts nach dem schön gelegenen Stenico mit seiner, das ganze Vorderjudicarien überschauenden Bergfeste. Hauptort von Hinterjudicarien ist das drei Stunden thalaufwärts liegende Tione. Hier mündet in das Sarcathal ein Thalspalt, das Arnothal, durch das eine Straße nach Italien führt. Sie wird selten besucht. Der Fremde eilt durch Judicarien, das trotz seiner reizvollen und mannigfachen Landschaftsbilder wegen seiner Armut und Übervölkerung, mit seinen unsauberen verfallenden Häusern und verwahrlosten Menschen keinen anmutigen Eindruck macht. Anziehender ist der nördliche Teil von Hinterjudicarien, das Rendenathal, das, von der Sarca durchströmt, zwischen den großartigen Bergmassiven des Adamello und der Brentagruppe nach Norden ansteigt. Hier ist ein wichtiger Knotenplatz, denn in nordöstlicher Richtung zieht die Straße nach dem seit einigen Jahren hoch modern gewordenen Luftkurort Madonna di Campiglio (Abb. 198); nach Westen dagegen steigt das Thal der Sarca als[S. 192] Val di Genova hinan in eine Reihe der großartigsten Hochgebirgslandschaften zwischen dem trotzigen Granitbau der Presanella (3564 m) und den Gletschern des Adamello (3548 m). Der bequeme Reisende fährt von Pinzolo nach Madonna di Campiglio, das, einst ein Kloster, jetzt zum großen Vergnügungsort sich umgestaltet hat. Ein viel begangener Jochsteig führt von Campiglio oder von Pinzolo (Abb. 199) aus über die Bocca di Brenta an den Molvener See. Es ist eine lange und mühsame Wanderung, aber sie zeigt die ganze Pracht der dolomitischen Brentagruppe, die in der Cima Tosa (3176 m) gipfelt. Nur ausdauernde Bergwanderer mögen das oberste Gebiet des Sarcathales, das Val Genova, heimsuchen. An dessen Ende (Abb. 200) liegt, über den Mandronseen und dem mächtigen Mandrongletscher, 2441 m hoch, noch ein deutsches Wandererheim, die Leipziger Hütte, erbaut zur Erleichterung von Touren im Eismeer des Adamello und von Übergängen über die vergletscherten Hochpässe nach dem benachbarten Italien.
Hier ist unsere Wanderung durch Tirol zu Ende.
Weber, Beda: Das Land Tirol. 1837/1838.
Staffler: Tirol und Vorarlberg. 1839/1846.
Thaler: Geschichte Tirols. 1854/1855.
Schneller: Landeskunde von Tirol. 1872.
Hörmann: Tiroler Volkstypen. 1877.
Jüttner: Die gefürstete Grafschaft Tirol und Vorarlberg. 1880.
Amthor: Tirolerführer. 1884.
Egger: Die Tiroler und Vorarlberger. 1882.
Schaubach: Die deutschen Alpen. 1866/1867.
Zingerle: Sitten, Bräuche u.s.w. des Tiroler Volkes. 1871.
Achleitner: Tirol und Vorarlberg. 1895.
Clemen: Tiroler Burgen. 1894.
Egger: Geschichte Tirols. 1872/1880.
von Hormayr: Tirol und der Tiroler Krieg von 1809. 1845.
Jäger: Geschichte der landständischen Verfassung Tirols. 1881/1885.
Streiter: Studien eines Tirolers. 1862.
Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol. Seit 1825.
Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins.
Steub: Drei Sommer in Tirol. 1871.
Baedeker: Südbayern, Tirol u. s. w.
Purtscheller & Heß: Der Hochtourist in den Ostalpen. 1894.
Außerdem zahlreiche Schriften von H. Noë und anderen.
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